Bis zum ersten gesprochenen Wort vergehen zwei Minuten und 41 Sekunden. Bergarbeiter treffen zusammen, eine Sprengung wird getätigt, man geht wieder auseinander. Einer von ihnen wirft später seine Arbeitsuniform von sich, verlässt das Bergwerk, fährt in eine Art finnisches Diner, in dem man, ein Blick auf die Dame hinter der Theke, offenbar noch rauchen darf. Dann erst folgt das erste Gespräch: Ein älterer Herr überlasst ihm, der sich als Taisto Kasurinen herausstellen wird, den Autoschlüssel. Er soll ein besseres Leben beginnen, raus in die Stadt fahren. Nur wenige Sekunden später ist der ehemalige Autobesitzer, vermutlich der Vater des Protagonisten, tot. Er hat sich auf der Toilette erschossen.
„Ariel", 1988 von Kaurismäki als zweiter Teil seiner „Proletarischen Trilogie" verfilmt, erzählt die erfolglose, aber deshalb nicht weniger beharrliche Suche seiner Protagonisten nach einem kleinen bisschen Glück. Die radikale Kargheit, die auf ein Minimum reduzierten Dialoge, die ihren Namen schon kaum noch verdienen, lassen kaum eine Psychologisierung zu. Man muss den gewohnten fortwährend plätschernden Wortfluss hinter sich lassen, um in das Kino von Aki Kaurismäki einzutauchen. Dann blitzt in manchen Augenblicken eine fast schon warmherzige Atmosphäre zwischen seinen Figuren auf, die dort gelandet sind, was man gemeinhin als Rand der Gesellschaft bezeichnet - oder die viel mehr wohl schon immer dort gewesen sind. Kaurismäki stattet sie alle mit einer umwerfenden Selbstverständlichkeit aus und fertigt so Filme, die als die vielleicht kärgste Schule der Sozialromantik gelten dürfen (der 1999 gedrehte „Juha" kommt sogar gänzlich ohne Worte aus).
Neben der Wortkargheit wurde eine weitere Eigenschaft zum Markenzeichen von Kaurismäkis Filmen: Die auffällig unzeitgemäße Ästhetik der Farben. Immer wieder wird hier der Vergleich zu Technicolor gezogen - jenem Filmmaterial, aus dem die kräftig leuchtenden Filmträume der 50er- und 60er- Jahre gemacht sind. Was Aki Kaurismäki, dem erklärten Gegner des klassischen Hollywood-Kinos, vielleicht nicht so gut gefallen dürfte. Tatsächlich sind die Ähnlichkeiten auch gar nicht so bedeutend, wie man auf den ersten Blick vielleicht meinen könnte: Kaurismäkis Filmblau, Filmrot, Filmgelb verfügen nicht über dieselbe brillante Farbkraft. Viel eher zeichnen sich seine Bilder durch eine ausgesprochene Mattheit aus, ganz so, als ob sich die durch theatralisch ausgeleuchtete Spots zu Tage tretenden Farbschichten erst noch Bahn brechen müssten durch eine Kargheit, die inhaltlich ganz offenbar zu Tage liegt und hier auch ästhetisch ihre Entsprechung findet. Oder anders gesagt: Wenn Technicolor der prächtige Filmpalast am Hollywood Boulevard ist, in dem alljährlich der Rote Teppich für die Oscarverleihung ausgerollt wird, dann sind Kaurismäkis Filmstreifen das schäbige Autokino am Rande der Urbanität, wo sich all jene treffen, die in diesem Jahr und sowieso leider draußen bleiben müssen.
Ein anderer Vergleich tut sich da schon viel eher auf: Die Ästhetik des Ostens. Wie ein Relikt aus einer anderen Zeit verweben Kaurismäkis Filme einen Sowjet-Kitsch, den es in dieser Form schon lange nicht mehr gibt. Seine Räume stattet er nach ähnlichem Prinzip aus wie seine Figuren und Dialoge - wie Bühnenbilder eines sozialistischen Theaters, nur auf das Nötigste reduziert und gerade deshalb auf eine merkwürdige Weise hyperrealistisch. Seltsam aus der Zeit gefallen mit ihren Resopal-Tischen, den Wachstischdecken und den schummrigen Kaschemmen, in die leuchtend farbige Möbel wie hineingebeamt aussehen und Protagonisten, die, wie in „I hired a Contract Killer", vor einer schmutzig türkisfarbenen Wand dem selbst gewählten Ende ihres eigenen Lebens entgegen starren. Was, auch das gehört zum Geheimnis von Kaurismäkis Kosmos, in seiner bodenlosen Tristesse oft eine lakonische Komik entfaltet.
Aki Kaurismäki wird 1957 in der finnischen Kleinstadt Orimattila geboren. Während seines Studiums bringt er ein eigenes Filmmagazin heraus, schreibt Kritiken und assistiert seinem älteren Bruder Mika, der bis heute ebenfalls als Regisseur tätig ist. Seinen ersten eigenen Film „Crime and Punishment" stellt Aki 1983 fertig. Wenige Jahre später folgt mit „Schatten im Paradies" der erste Teil seiner „Proletarischen Trilogie", die er 1990 mit dem durch und durch bitteren „The Match Factory Girl - Das Mädchen aus der Streichholzfabrik" fertigstellt. Einem größeren Publikum bekannt wird Kaurismäki durch einen ganz anderen Film - in „Leningrad Cowboys Go America" begleitet er die gleichnamige finnische Band mit den überdimensionalen Haartollen in einem Roadmovie durch die USA. Dazwischen und danach dreht er immer wieder Filme wie „Lichter der Vorstadt", die sich mit den Randexistenzen der Gesellschaft beschäftigen, den Arbeitern und Arbeitslosen, den Gelegenheitskriminellen und Alleinstehenden. Einige seiner Arbeiten werden jetzt im Rahmen einer Retrospektive im Deutschen Filmmuseum gezeigt. Außerdem zu sehen: Finnische Filme, ausgewählt vom Filmhistoriker und Regisseur Peter von Bagh († 17. September 2014). Von Bagh war viele Jahre Vorsitzender des Finnish Film Archive und gründete zusammen mit Aki und Mika Kaurismäki das Midnight Sun Film Festival, das jeden Sommer 120 Kilometer vom Polarkreis entfernt in tagheller Nacht stattfindet. Am 8. Oktober ist Aki Kaurismäki zur Vorführung von „Le Havre" zu Gast.
Selbstverständlich verbittet sich jeglicher Rückschluss von den Filmen auf die finnische Realität. Ausgerechnet in Aki Kaurismäkis Arbeiten mit ihrem so reichhaltig skurrilen Kosmos glauben aber nicht wenige doch tiefere Einblicke in die finnische Seele erhaschen zu können. Gerade in der artifiziellen Erhöhung, den auf die Spitze getrieben wortkargen Dialogen, dem beharrlichen Festhalten am Retro-Chic könne sich das genuin Finnische zeigen, so zumindest eine gern formulierte Annahme. Im Frankfurter Kunstverein untersucht Johanna Merbach Klischees und Stereotypen in Kaurismäkis Filmwelt auch auf ihren möglichen Wahrheitsgehalt. Text: Katharina Cichosch
„Film und finnische Klischees. Diskretion, Beklemmung und Regung in Kaurismäkis Filmen" - Vortrag im Frankfurter Kunstverein, 2. Oktober 2014, 20 Uhr Die Retrospektive Kaurismäki und weitere finnische Filme, ausgewählt von Peter von Bagh, sind noch bis einschließlich Oktober im Filmmuseum zu sehen. Mehr Informationen auf der Website des Deutschen Filminstituts.