Wie lang wird unsere Begeisterung für die sogenannte Mid-Century Moderne noch andauern? Aktuell ist jedenfalls kein Ende in Sicht: Nachdem der Stil der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit den 1960er Jahren einige Jahrzehnte als hoffnungslos geradezu unmodern galt, hält die romantische Versessenheit mit der Mad Men-Ära nun schon viele Jahre, beinahe Jahrzehnte an. Mit dem dicken Wälzer „Atlas of Mid-Century Modern Houses“ von Dominik Bradbury dürfte das Ganzen abermals befeuert werden.
Es ist dies einer der vermutlich umfangreichsten Sammelbände zum Baustil überhaupt – sieht man einmal von Julius Shulman’s „Modernism Rediscovered“ ab, das bei Taschen gleich in einem ganzen Bücherkoffer erschien, allerdings konzentrierte der sich schwerpunktmäßig auch auf die USA , Israel, Mexiko und Hongkong. Mit diesem Atlas nun wird unausgesprochen der Beleg angetreten, dass die Mid-Century Moderne nicht umsonst (wenn auch nicht hundertprozentig deckungsgleich) „International Style“ genannt wird: Wie gut sich ihre Gestaltungsprinzipien, das Bauen am Hang und in die Umgebung hinein, die oftmals offene Wohnarchitektur, der Verzicht auf schräge Dächer und so fort eigentlich in jedem Landstrich der Welt einpassen.
Kurzum, warum Bauwerke wie diese auch heute noch als Inbegriff der „modernen“ Architektur schlechthin gelten (wenngleich die kulturgeschichtliche Moderne bekanntlich zu diesem Zeitpunkt schon vorbei war). Bradbury stellt dann auch eher fest als zu argumentieren: „Sehr selten kann man eine Zeit festmachen, in der architektonischer Einfallsreichtum und eine einnehmende Ästhetik so vollständig und ausdrücklich miteinander kombiniert wurden.“ Ein goldenes Zeitalter der (Wohn-) Architektur, bei der nicht nur Gebäude, sondern auch Interieurs mit demselben Ideenreichtum entworfen und passgenau angefertigt wurden.
Als echter Atlas geht dieser Bildband nicht so sehr in die Tiefe, wohl aber in die Breite. In allen Winkeln der Erde und auf allen fünf Kontinenten werden Beispiele für Bauhäuser der Mid-Century Moderne aufgetan. Rund 400 Exemplare sind es insgesamt, entworfen von 290 Architektinnen und Architekten. Jedes Haus wird mit kurzem Text und Foto vorgestellt und mit Name, Architekt, Standort und Baujahr ausgezeichnet.
Die Zuordnung wird dabei naturgemäß etwas großzügiger vorgenommen. Neben den einschlägigen Häuserikonen der europäischen Migranten wie van der Rohe, Neutra und Co. oder dem Wohnhaus der brasilianischen Star-Architektin Lina Bo Bardi kann man hier zum Beispiel die Villa Sami Suissa von Jean-Francois Zevaco, „die marokkanische Antwort auf Oscar Niemeyer“, in Casablanca entdecken. Oder Peter McIntyres Butterfly House mit seinen dreieckigen Fenstern, das er 1955 noch als Architekturstudent von zusammengekratztem Geld anfertigen ließ. Oder: den Kanzlerbungalow in Bonn, der seine unaufgeregte, fast bescheidene Eleganz Architekt Sep Ruf zu verdanken hat. Der modernistische Architekt, erfährt man im Text, sollte mit diesem und weiteren Bauten in der Bundeshauptstadt zu einem progressiven Image der Nachkriegs-BRD beitragen.
Aufschlussreich sind die Symbole, die den aktuellen Zustand, Gebrauch (hiermit sind vor allem bauliche Veränderungen gemeint) sowie möglichen Denkmalschutz ausweisen. Von rund 400 Häusern wurden im Laufe der Jahrzehnte 22 abgerissen – im Vergleich zu anderen, weniger einhellig beliebten Baustilen scheint diese Quote noch erfreulich. Zumal, wenn man sie international betrachtet. Immerhin 155 Häuser, lernt man hier außerdem, befinden sich noch in ihrem Originalzustand, wurden also weder angepasst noch umgebaut.
Doch man darf gemeinsam mit dem Autor vorsichtig skeptisch sein, ob der aktuelle status quo weltweit erhalten werden kann – oder ob man in zehn, zwanzig Jahren hier ganz andere Quoten notieren müsste. Denn richtig ist auch, dass nicht einmal ein Fünftel aller gelisteten Häuser unter Denkmalschutz stehen. Und auch das, schreibt Bradbury im Vorwort, bedeute in vielen Teilen der Welt noch keine automatische Sicherheit. So ist dieser Atlas seinem Namen entsprechend ebenso architektonische Bestandsaufnahme wie Coffeetable-Book für einen wahrhaft internationalen Baustil.
[Abgeändert und gekürzt auf Spiegel.de erschienen.]
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