Erstaunlich, dass diese Räume (noch?) ohne Epilepsie-Warnung auskommen: Hier flirren die Neon- und Bilderströme, derweil die Ohren mit einem Mix aus bekanntem Computerspiele-Klingklong, China-Pop und Metalcore malträtiert werden. Fast schon ein zu gutes Klischee für das, was man sich im Westen vielleicht nicht ganz unpassend als Fernost-Gaminghölle vorstellt.
Doch die insgesamt neun Videoarbeiten von Lu Yang wollen nicht bloß Schritt halten mit dem Wahnsinn. Sie schaffen es gar, den aktuellen digitalen Lebenswelten zumindest visuell noch eins draufzusetzen. So werden von ihr nicht nur kurze Spielfilme, Animationen und Collagen über Cyborgs oder Elektromagnetische Hirnstimulationen über die Bildschirme gejagt, sondern auch ganze Pseudo-Games kreiert. Das vorerst Schönste: Der „Uterus Man“, ein Post-Gender-Superheld mit weiblicher Gebärmutter, der einige Spezialtricks parat hat – von der „DNA Attack“ über die „Deep Throat Laser Cannon“ bis zur Geburt eines Monster-Babys, das als Wurfwaffe durch die Luft geschleudert werden kann.
Virtuos verwebt Yang das ästhetische Erbe der 90er Jahre bis heute und strickt daraus schwarzhumorige Geschichten vom Schlage einer Göttlichen Komödie: Werbung und chinesische Popkultur, Manga und Zombies, Tod und Geburt, Religion und Esoterik, Quacksalberei und seriöse Medizin treffen hier auf jene fiebrige Aufregung, die die Eroberung des World Wide Web noch vor gar nicht allzu langer Zeit mit sich brachte, bevor plötzlich alle zu Digital Natives wurden.
Mit „Micro Era. Medienkunst aus China“ präsentiert das Berliner Kulturforum nun eine große Übersichtsausstellung über das dort noch vergleichsweise junge Kunstformat. Statt auf möglichst viele Positionen hat man sich hier auf vier Künstler konzentriert. Das macht Sinn, denn auch in dieser Dichte kann ein voller Rundgang gut ein paar Stunden in Anspruch nehmen.
Je zwei Künstler teilen sich eine Ausstellungshalle: Lu Yang (*1984) hat sich ihren einstigen Professor Zhang Peili (*1957) als Gegenpart ausgesucht. Eine ganze Generation liegt zwischen beiden Künstlern – als Peili 1988 mit seinem Film „30x30“, ein mehrstündiger Loop über das Zersplittern und Wieder-Zusammenkleben einer Spiegelfliese, die Medienkunst in China aus der Traufe hob, war Yang gerade wenige Jahre alt.
Die obere Etage teilt sich die zuletzt auf der Berlinale präsente Filmemacherin Cao Fei (*1978) mit Fang Di (*1987). Das passt auch formal gut zusammen: Während Yang und Peili die Grenzen des Medienformats austesten, greifen Fei und Di hier auf eher narrative, dokumentarische Formen zurück.
Eine ganze Ausstellung allein mit Videokunst zu bestreiten, erfordert entsprechende Vorsorge. Die Ausstellungshäusern erstaunlich oft gerade nicht gelingt. Ein berüchtigtes Problem zeitbasierter Kunst: Wenn weder Bild- noch Tonqualität stimmen, hat der Durchschnittsbesucher wenig Lust, länger als ein paar Minuten vorm einzelnen Werk auszuharren. Ausreden will der scheidende Museumsdirektor Udo Kittelmann diesmal nicht gelten lassen. Die Kritik, dass Videoarbeiten oft viel zu lang seien, könne er „nicht mehr akzeptieren!“
Beim Ton hapert es manchmal: Während man dem einen Werk über Kopfhörer folgen kann, dröhnt die Musik des anderen schon im Hintergrund. Dafür wurde sitztechnisch alles richtig gemacht. Plastikstuhlreihen und Bürostühle laden dazu ein, die bis zu einstündigen Arbeiten von Cao Fei und Fang Di in Ruhe anzuschauen. So wie den Film „11.11“, Feis kommentarlose Begleitung jener Fahrer, die fürs chinesische Amazon-Pendant JD bis zu achtzehn Stunden am Tag in Peking die Pakete ausliefern.
Oder Fang Dis „Minister“, in dem er die weitreichende Korruption in Papua-Neuguinea offenlegt – möglich dank einer bizarren Berufskombi: Di ist nicht nur Künstler, sondern zugleich auch Angestellter eines Staatsunternehmens, das dort angesiedelt ist. Als solcher erhält er tiefreichende Einblicke, die ihm sonst verwehrt blieben.
Während Peilis konzeptionelle Videoarbeiten immer wieder um autoritäre Machtausübung und Überwachung kreisen, geht es bei seinen jüngeren Kollegen allgemeiner zu: Fragen sozialer Gerechtigkeit, Geschlechterfragen, Digitalisierung und Vereinsamung, an anderen Stellen auch Umweltschutz und Nachhaltigkeit – Themen fernab der Tagespolitik, die hier wie in jedem anderen Land der Welt relevant sein können. Ein globales Phänomen, man wird zugleich kleinteiliger wie auch universeller.
Künstler vom Typus eines Ai Weiwei sind in China eher die Ausnahme, was der als Feigheit versteht, während zeitgenössische Kollegen seine Politkunst als Anbiederung an den Westen wie an den Markt deuten (wer mehr dazu lesen möchte, dem sei Christopher Beams aufschlussreiches Stück im New Yorker empfohlen[Link: https://www.newyorker.com/news/news-desk/ai-weiwei-problem-political-art-china] ).
Die Ausstellung schließt mit den experimentellen Arbeiten von Peili und Yang: Wenn der Vater chinesischer Medienkunst eine simple Kammer aufstellt, in der sich zwei Besucher unabhängig voneinander beobachten können, ohne sich selbst jemals zu sehen, dann erzeugt dies unweigerlich ein Bewusstsein dafür, wie sich reale Überwachung anfühlt. Lu Yang wiederum liefert mit ihren immerfort rein- und rauszoomenden Perspektiven die passenden Bilder für die Generation Post-Internet: Digitaler Eskapismus hat zumindest lange nicht mehr so aufregend ausgesehen wie in der „Luyanghell“.
„MICRO ERA. Medienkunst aus China“, bis 26.01.2020 im Kulturforum Berlin. Katalog 30 Euro.
[Gekürzte Version auf Spon.]
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