Jon Antelline war erst 19 Jahre alt, als er sein künftiges Familiendomizil in einem Eukalyptus-Hain im kalifornischen San Diego plante und gestaltete. Was allein schon bemerkenswert genug wäre, wird noch unglaublicher, wenn man einen näheren Blick auf die Antelline Residence wirft, wie das Wohnhaus getauft wurde: Der junge Architekt konzipierte sein Wohnhaus nach Vorbild eines Kreises, der auf drei Wohnebenen immer wieder in unterschiedlicher Form auftaucht – besonders konsequent in Wohnraum und Küche, wo schlicht alles rund ist: Die individuell angefertigten Mahagoni-Täfelungen, Küchenmöbel und Backöfen schmiegen sich an die kreisrunden Wände; gelb getünchte Deckenleuchten und eine freistehende Dunstabzugshaube führen das geometrische Thema fort.
Dass Antellines Bauwerk überhaupt einer größeren Öffentlichkeit bekannt geworden ist und inzwischen längst auch die sozialen Bilder-Plattformen erreicht hat, verdankt sich in erster Linie ihm: Julius Shulman, einem der enthusiastischsten Architektur-Fotografen und Chronisten der amerikanischen Moderne, die die Welt je gesehen hat. In dem Archiv des 1910 geborenen New Yorkers schlummerten bestens sortiert und dokumentiert die Abbildungen von Tausenden Bauwerken aus mehreren Jahrzehnten amerikanischer Architekturgeschichte – Banken, Kirchen oder private Wohnhäuser von den 1930ern bis in die 1970er Jahre und darüber hinaus. Etliche Bauwerke, wie die von Richard Neutra, Charles und Ray Eames oder auch Frank Lloyd Wright, haben sich dank seiner Fotografien ins kollektive Gedächtnis eingebrannt und das Bild der kalifornischen, neuen Welt entscheidend mitgeprägt.
Mit „Modernism Rediscovered“ setzte der Taschen-Verlag nun auch jenen Häusern ein Denkmal, die es bisher kaum oder gar nicht aus Shulmans Archiven in die Architektur- und Publikumszeitschriften geschafft hatten. Bauwerke in Utah, San Diego oder Long Beach, wo Hugh und Donald Gibbs ein fantastisch filmisches Bürogebäude mit direkter Glasfront zum künstlich angelegten Bächlein errichten ließen. Oder die Coston Residence in Oklahoma City, vom gleichnamigen Architekten aus einem alten Farmhaus komplett als moderne Behausung mit zeltartig erhöhter Decke umgestaltet. Schön die Beobachtungen, die man am Rande machen kann: Wie gemütlich und wohnlich die Moderne hier ausschaut, im Gegensatz zur oft blutleeren Variante, wie sie heute gern inszeniert wird. Auch interessant: Wie sich die Häuser in die amerikanischen Landschaften einpassen, manchmal auf geringer Fläche oder an felsigen Hängen unter schwierigen Bedingungen gebaut.
Das Prinzip „Pic or it didn‘t happen“, also grob gesagt: nur, was als Abbildung verfügbar ist, wird überhaupt als existent wahrgenommen, trifft in ganz besonderem Maße auch auf die Architektur zu: Gerade Privathäuser bleiben dem öffentlichen Blick sonst für gewöhnlich verborgen – selbst dann, wenn professionelle Abbildungen wie hier die von Julius Shulman existieren. Das Buch widmet sich daher nicht nur auf jeweils ein bis zwei Doppelseiten detailliert den bisher weniger bekannten Bauwerken aus Shulmans Archiv in Wort und Bild, sondern beschreibt auch die Mechanismen, die mitbestimmen, welche Bilder Einzug ins öffentliche Bewusstsein halten und welche Auswirkungen dies auf die (ästhetische) Geschichtsschreibung hat: Abbildungen von Bauwerken außerhalb der großen Metropolregionen haben es naturgemäß schon einmal schwerer als solche in Los Angeles oder anderswo. Aber auch fehlende PR-Strategien unbekannterer Architekten trugen im Beispiel der Amerikanischen Moderne dazu bei, dass deren Arbeiten weitgehend unbeachtet blieben.
„Modernism Rediscovered“ ist dem Verlag daher durchaus eine Herzensangelegenheit: So soll die Fotografiesammlung nicht nur die Diskussion darüber, was überhaupt den so berühmt gewordenen Architekturstil auszeichnet, neu belebt werden. Man wünscht sich nicht weniger als eine Neuschreibung bzw. Überarbeitung der Architekturgeschichte: Weil etliche der hier vertretenen Beispiele nicht in offiziellen Datensammlungen auftauchen, kamen sie für diese bisher de facto nicht vor. Und dann ist das Buch nicht zuletzt natürlich auch eine Hommage an Shulman selbst, der so viele Tausende und Abertausende Negative und Dia-Positive mehr angefertigt hat, als in den Museen und Architekturzeitschriften je gewürdigt werden konnten.
Für all dies stehen heute zwei oder streng genommen sogar drei Ausgaben zur Wahl: Die Originalausgabe mit 400 ausgewählten Bauwerken in drei großzügigen Bildbänden, die nun nochmals in einer günstigeren Neuauflage erscheint und als gewaltiger Klotz eine beeindruckende Präsenz entwickelt. Im direkten Vergleich muss einem die neue Miniatur-Ausgabe mit immerhin 200 wunderbaren Bauwerken wie ein Trostpreis vorkommen – aber das ist sie natürlich nicht: Vielmehr ein sehr dankbares, sehr bezahlbares Bilderbuch zum Herumtragen für Erwachsene.
„Modernism Rediscovered“, 100 bzw. 15 Euro, bei Taschen.
[Leicht gekürzt auf Spon.]
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