Betonklötze polarisieren. Warum man sie trotzdem nicht leichtfertig der schönen Welt aus einem Guss opfern sollte – meine Replik auf einen Debattenbeitrag vom Kollegen:
"Raw Concrete: The Beauty of Brutalism", "This Brutal World", "Concrete Concept" oder "New Brutalism": Auch der Büchermarkt feiert den wiederentdeckten Baustil (der streng genommen eigentlich gar nicht so genau definiert steht). Brutalistische Bauwerke werden in Pinterest-Listen geteilt und in Ausstellungen wie jetzt im Deutschen Architekturmuseum einer breiten Öffentlichkeit präsentiert.
Klar, gut gedacht ist auch hier natürlich längst nicht immer gut gemacht: Einige Gebäude sind baubedingt extrem hellhörig, finster, schlicht enorm unpraktisch. Diese Nachteile sollten im Begeisterungsjubel nicht unerwähnt bleiben. Doch wenn mein Kollege Philipp Wurm davon spricht, dass die neue Betonverrücktheit den Fokus der Diskussion um lebenswerteres Wohnen völlig ad absurdum führe, dann klingt das für mich allerdings wie eine Scheindebatte.
Sadistischer Beton: Mit einem Mal sind sie wieder hip, die Betonklötze der Brutalismus-Architektur. Überall werden die Nachkriegsbauten gefeiert, auf Instagram, in Ausstellungen, im Feuilleton. Ein Irrsinn, findet Philipp Wurm.
Als ob die heiße, aber vermutlich auch eher kurz andauernde Brutalismus-Liebe dazu führen könnte, dass junge Architekten plötzlich wieder genau so konzipieren und bauen würden. Darum geht es nicht und ging es niemals. Die alten Betonklötze - die bisweilen auch ziemlich elegant, gar verspielt oder luftig ausschauen können - sind kein Ersatz für neue Ideen.
Was diese Bauten hingegen schon sind: in Beton gegossene Erinnerungen an die Nachkriegszeit, zumindest in Europa, an Utopien vom sozialen Miteinander. Politische Ideologien, an die viele nicht erinnert werden möchten oder die etlichen offenbar längst überholt erscheinen. Sollte man deshalb alles, was heute störend oder hässlich wirken könnte, tilgen? Im Osten des Kontinents wird damit schon fleißig begonnen: Wie in Skopje, wo brutalistische Gebäude durch pseudoklassizistische Fassaden verkitscht werden. Doch auch kleinere Eingriffe wie geweißelte Fassaden verändern das Antlitz der Gebäude gewaltig.
Der Habiflex-Wohnkomplex in Wulfen, der berühmte "Mäusebunker" in Berlin, die "Neue Mensa" am Frankfurter Campus Bockenheim: Auch hierzulande stehen etliche architektonisch teils einzigartige Gebäude kurz vor dem Abriss oder wurden bereits abgetragen. Selbst ein geschlossen auftretendes, Brutalismus befeuerndes Feuilleton - was so nicht existiert - könnte daran viel ändern. Das aktuelle Revival ebenso wenig.
Bessere Wohnbedingungen? Unbedingt!
Architektonisch wünschen sich viele Menschen offenbar lieber gleich zwei oder drei Generationen zurück - siehe den Wiederaufbau des Potsdamer Stadtschlosses, das heute als Neubau im pseudohistorischen Gewand am Rande der Innenstadt prunkt (das Berliner Stadtschloss soll folgen, und dann das "Stadtbild heilen"). Wenn die Vergangenheit so rekonstruiert wird, bis sie jeweils gefällt, dann könnte man dies durchaus als Geschichtsklitterung bezeichnen.
Es gibt Tagespolitik, und es gibt Tagesgeschmack. Bessere Wohnbedingungen für alle? Unbedingt! Gärten, Licht und Luft dürften den meisten Menschen gefallen. Aber es gibt eben auch solche, die so gern in einem Betonkoloss wie dem Londoner Trellick Tower leben möchten, dass sie Preise fernab der einst üblichen Sozialmiete dafür zahlen. Ganz abgesehen von den unzähligen brutalistischen Gebäuden im öffentlichen Raum, den Kirchen und Kulturzentren, Ämtern, Hotels oder Universitäten wie der in São Paulo, die nichts mit konkretem Wohnen, aber viel mit gewachsenem Stadtbild zu tun haben.
Neben Ansprüchen wandeln sich auch Geschmäcker. Hinter Baukonzepten stecken reale Bedürfnisse, aber darüber hinaus auch Vorstellungen, wie die Welt ist und wie sein sollte. Design und Architektur entstehen nicht im luftleeren Raum. Sicherlich wird auch mit dem, was heute als State of the Art gilt, nicht das Ende der Geschichte eingeläutet werden. Der Abriss bestehender Bausubstanzen zugunsten einer schönen, neuen Welt wäre in erster Linie reaktionär - sofern es keine guten Gründe hierfür gibt: Wenn der Erhalt viel kostspieliger oder aufwendiger wäre als ein Neubau oder andere zwingende Nachteile bietet, muss wie überall objektiv abgewogen werden.
Über Geschmack lässt sich bekanntlich nicht streiten. Nötig wäre es aber eben doch: Wer bestimmt die Denkmalwürdigkeit eines Bauwerks, das nicht auf den ersten Blick gefällig scheint? Was steckt hinter dem offenbar nicht so seltenen Bedürfnis, lieber in einer Art hübschem Freilichtmuseum zu leben? Und ließen sich bestehende Gebäude nicht auch ganz pragmatisch verbessern? Das kann auch eine Frage der Nachhaltigkeit sein.
Brutalistische Bauwerke polarisieren, das macht natürlich auch ihren Reiz aus. Gebäude sind von Menschen gemacht, der Brutalismus erhebt sich relativ frech über diese. Ein manchmal Grusel, Ärger oder Bewunderung hervorrufender Störer, der in seiner aberwitzigen Präsenz allerdings viel mehr Ausstrahlung entfalten kann als mancher historische Nachbau oder das, was heute im öffentlichen und privaten Raum vielleicht ebenso gut gemeint, aber vergleichsweise langweilig platziert wird.