Technische Errungenschaften und moderne Stadtplanung veränderten nicht nur das alltägliche Leben in Frankreichs Hauptstadt. Sie boten auch neue Motive in Malerei und Fotografie.
Liest man zunächst nur die Titel der Fotografien, so erwartet man wenig Mondänes von den zugehörigen Motiven: „Pissoir“, „Geruchsfreies Closett für fünf Centimen“ oder „Pissoir mit sechs Plätzen“ heißen die Aufnahmen, die Charles Marville als offiziell beauftragter Fotograf der Stadt Paris anfertigt. Wobei er bei seiner Dokumentation keinesfalls auf öffentliche Sanitäranlagen beschränkt ist: In seinem rund 250 Fotografien umfassenden Repertoire finden sich Straßenlaternen, Zeitungskioske, Parkanlagen und Litfaßsäulen – mit fast atmosphärischer Ruhe und leergefegten Straßen in Szene gesetzt, als ob das neue, das moderne Paris seiner Zeit vor allem von Bauwerken und technischen Anlagen bevölkert war.
Marville
ist nicht der einzige, der die Veränderungen der französischen
Metropole fotografisch festhält. Der 1864 geborene Henri Rivière
etwa zieht ebenfalls durch die Straßen seiner Stadt, fotografiert
allerdings auch Passanten und Wartende, Ausflügler und Menschen, die
vertieft ihres Weges gehen. Und auch, wenn Rivières Motive auf den
ersten Blick nichts mit den puristischen Fotografien von Marville
gemein haben, so beschreiben sie doch ein ähnliches Thema: Die
Veränderungen einer Stadt zur modernen Metropole, die
Veränderungen eines sich stetig ausbreitenden Paris mit seinen
neuen Bauwerken, Brücken und Straßenzügen, den – um wieder auf
Marville zu kommen – öffentlichen Pissoirs und Litfaßsäulen, die den
Blick des geschäftigen Passanten mit Werbeplakaten auf sich
ziehen.
Neuer Blick, neue Welt
Ein drittes
Beispiel für die massiven Veränderungen, die der städtebauliche
Wandel der französischen Hauptstadt mit sich brachte, sind die
Brückenfotografien von Auguste-Hippolyte Collard: Er nähert sich
den neuen Bauwerken mal aus sicherer Distanz, mal aus unmittelbarer
Nähe. Sein Blick zeugt von Bewunderung und manchmal Ehrfurcht vor
den technisch anspruchsvollen Konstruktionen, die das Stadtbild
von Paris Ende des 19. Jahrhunderts radikal verändern sollten und
zu ihrer Zeit den Höhepunkt einer technischen Entwicklung
repräsentieren.
Als
wacher Beobachter beschäftigt sich auch Gustave Caillebotte mit
den Veränderungen, die er täglich in seinem Umfeld hautnah
mitverfolgen kann. Viele seiner Stadtansichten vermitteln die
vorherrschende geschäftige Stimmung, stellen mal die
vorbeihuschenden Passanten in den Fokus, mal die modernen Bauwerke
und Anlagen, die dem Stadtmenschen als neu gestalteter Lebensraum
dienen und sein Leben nun maßgeblich mitbestimmen. Oftmals lässt sich
der Fokus eines Bildes gar nicht recht fassen, verschwimmen Menschen
und die sie umgebende Stadt mit ihren Brücken und Bauwerken zu einer
einzigen Panoramaansicht – so zum Beispiel in „Pont de l´Europe“.
Vom Fortschritt überwältigt
Neben
den fortschrittlichen Motiven, die er für seine Arbeiten auswählt,
ist es jedoch nicht zuletzt auch die spezifische Perspektive, die
ihn als Maler eines modernen Paris ausweist: Caillebotte sprengt die
klassischen Konventionen der Malerei, indem er stark begrenzte
Ausschnitte schafft oder das Motiv der neu konzipierten
Straßenführung aus der Vogelperspektive abbildet („Eine
Verkehrsinsel, Boulevard Haussmann“). Die rasant umgebaute Stadt
bietet neue, ungewohnte Blickwinkel und -achsen, die dem Künstler
Anreiz zum Experimentieren bieten.
Vielleicht
ist es kein Zufall, dass nur rund ein Jahrzehnt später der heute
weltberühmte Eiffelturm ins Stadtbild tritt und bald zum
Wahrzeichen wird: 1887 wird mit den Bauarbeiten begonnen, zwei
Jahre später ist das monumentale Bauwerk passend zur
Weltausstellung fertiggestellt. Mit diesem Schritt festigt Paris
endgültig seinen Weltruf als radikal moderne, kosmopolite
Metropole.
Auch die Fotografie findet Wege und
Möglichkeiten, die neuen Sehgewohnheiten, die technischen
Errungenschaften und Entwicklungen des städtischen Raumes und
seiner Perspektiven zu dokumentieren und abzubilden.
Caillebottes Bilder aber fangen zugleich auch den Esprit des
staunenden Flaneurs ein, der überwältigt von der rasanten
Entwicklung aufmerksam das Geschehen verfolgt und dokumentiert.
Zum Original