Der Bildband "Visual Feast" zelebriert die zeitgenössische Food-Fotografie – inklusive knalliger Ästhetik als Kontrapunkt zum Instagram-Minimalismus. Mein Interview mit der Editorin Anja Kouznetsova:
SPIEGEL ONLINE: Frau Kouznetsova, schon das Titelfoto von Maurizio Cattelans und Pierpaolo Ferraris hat mich sofort in die Traumwelten aus Gelee und Senfcreme der Siebzigerjahre-Kochbücher versetzt: Damals hatte Essen noch diese Gewichtigkeit, Mächtigkeit war etwas Gutes. Ein riesiger Kontrast dazu, wie heute inszeniert und fotografiert wird.
Kouznetsova: Mir ging es ganz genauso! Ich hatte die Strecke in einem "New York Times"-Artikel entdeckt, als ich gerade diese ganzen authentisch inszenierten Fotografien durchgeschaut habe - wo Essen wieder möglichst simpel, traditionell aussehen soll. Und dann poppt da diese extrem überzeichnete Ästhetik auf, die an jene Kochbücher erinnert.
SPIEGEL ONLINE: Tatsächlich haben Cattelan und Ferrari Rezeptkarten von Betty Crocker als Vorlage genommen, dieser amerikanischen Hausfrauenmarke, von 1971.
Kouznetsova: Ja, aber dann kommt dieser Twist: So knallige Farben, solch übersättige Töne und dieser Glanz - das wäre damals so gar nicht möglich gewesen. Es ist doch interessant, dass ein für sich genommen banales Objekt wie ein Kochbuch unmittelbar viel mehr über eine Zeit auszusagen scheint als so manches Geschichtsbuch: Wie ist unser Verhältnis zum Essen, welche Speisen waren oder sind wichtig, welche Rolle spielt das Familiäre und so fort. All das schwingt da ganz stark mit, wird aber zugleich konterkariert.
SPIEGEL ONLINE: Sie schreiben in Ihrem Vorwort von Essen als einem Kernpunkt des Lebens. Gleichzeitig heißt es immer noch: Mit Essen spielt man nicht. Liegt die Faszination für die Food-Fotografie auch in diesem Tabubruch mit dem Sujet? Instagram ist voll davon.
Kouznetsova: Wir versuchen, visuelle Kulturen, die gerade noch im Entstehen sind, aufzugreifen. In diesem Fall haben wir uns genau diese Frage gestellt: Warum wird Essen ausgerechnet jetzt so groß, woher kommt diese beinahe schon gesellschaftliche Obsession? Einerseits war Essen natürlich nie nur Notwendigkeit. Denken Sie nur an die barocken Maler, die Essen sehr früh in Szene setzten. Andererseits findet sich ein krasser Gegensatz gerade in den gesellschaftlichen Schichten, die so gerne über Essen sprechen, Essensbilder posten, aber gleichzeitig immer weniger selbst kochen. Immer mehr junge Leute widmen sich dem Thema und nutzen es auch zur Selbst-Inszenierung. Das ist der gesellschaftliche Hintergrund, vor dem das Thema für uns spannend und relevant wurde.
SPIEGEL ONLINE: Die sozialen Medien werden auch im Vorwort explizit angesprochen: Durch sie, so eine These, habe sich nicht nur die Food-Fotografie, sondern auch der gesellschaftliche Umgang mit Essen verändert.
Kouznetsova: Unsere Recherche lief am Anfang ganz stark über Social Media und Blogs. Wir haben bald gemerkt, dass die wirklich spannenden Arbeiten nicht unbedingt dort zu finden sind. Einerseits haben Social Media und Online-Magazine also den Anstoß gegeben, sich mit dem Thema näher zu beschäftigen, im Buch selbst ist die Sphäre dennoch wenig präsent.
SPIEGEL ONLINE: Aber es gibt Ausnahmen: Etwa die Fotos von Matteo Stucchi ...
Kouznetsova: ... der auf Instagram als "idolcidigulliver" typisch italienische Süßigkeiten dem Menschen überlebensgroß gegenüberstellt. Sie veranschaulichen den ironischen Umgang mit Food-Fotografie, humorvoll und lustvoll: Gerade deshalb ist Essen als Objekt ja so spannend, weil es die eigene Lebensweise repräsentiert, man aber sehr spielerisch mit ihm umgehen kann.
SPIEGEL ONLINE: Nach welchen Kriterien haben Sie die Sammlung zusammengestellt? Bildgewaltig und mächtig sind alle Fotografien, aber letztlich zeigt das Buch doch sehr unterschiedliche Arbeiten.
Kouznetsova: Wir wollten gerade dieser enormen Bandbreite Rechnung tragen: Ästhetisch von den beinahe barocken Anordnungen, rustikal-düsteren Bildern, über naturalistische Inszenierungen auch beispielsweise von Fleisch oder dem knalligen Technicolor bei einem meiner Lieblingsfotografen Maurizio Di Iorio bis hin zu den Infografiken von Sarah Illenberger. Dazu die unterschiedlichen Zwecke, für die Essen in Szene gesetzt wird: Kommerziell, in Editorials, in freien Arbeiten bis hin zu regelrechten Food Performances.
SPIEGEL ONLINE: Ein visuelles Festmahl stellen die bildstarken Arbeiten in jedem Fall dar - aber einige versuchen nicht einmal den Anschein zu erwecken, essbar zu sein.
Kouznetsova: Es ist ja ein offenes Geheimnis, dass Food-Fotografie in den allermeisten Fällen keine essbaren Ergebnisse produziert: Das Essen wird von allen möglichen Leuten angetatscht, muss oft über viele Stunden unterm Scheinwerfer am Set stehen. Die Wirklichkeit dahinter ist eher unappetitlich. Dieses Thema wird übrigens auch im Buch aufgegriffen: Die Set-Designerin Sandy Suffield kreiert traditionelle Sets mit Braten, Eis oder Brot, und drum herum sehen wir das ganze Arsenal an Werkzeug, inklusive Haarspray.
SPIEGEL ONLINE: Welche Nahrungsmittel sind denn am schwierigsten zu fotografieren?
Kouznetsova: Ich habe mir sagen lassen, Eis und Eier seien die am schwierigsten zu inszenierenden Lebensmittel. Und dann das Thema Glanz: Ein Fotograf erzählte mir, er habe zwölf fix und fertig präparierte Gänse für ein einziges Foto vorbereitet. Sobald die eine an Glanz und Knackigkeit verloren hat, kam die nächste zum Einsatz.
SPIEGEL ONLINE: Haben Sie zum Schluss noch einen Tipp, für das perfekt bei Instagram in Szene gesetzte Mahl?
Kouznetsova: Das Tragische an Instagram ist ja, dass ein Bild genau dann als perfekt wahrgenommen wird, wenn es möglichst viele Likes bekommt - weil es aussieht wie alle anderen. Viel interessanter als das eine, perfekte Motiv ist in meinen Augen das imperfekte: Zum Beispiel eine Reihe von Bildern oder ein Making-of hinter den Kulissen.