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Wenn Arizona nicht hinhaut, fahren Sie nach Unna!

Das erste große Manko, das diese Stadt zum Unterschätztwerden geradezu prädestiniert, ist ihr Name: Unna. Keine Ahnung, was der genau bedeuten soll. Es gibt ein paar Erklärungsversuche, aber auch die sind eher dürftig und unglamourös: So könnte Unna angeblich die verkürzte Form von „un-nah“, also weit weg, also wieder bloß in Relation zu einem anderen Ort sein. Für einen echten Gründungsmythos ist das freilich zu wenig. Oder, um es wie der Kartograf Stephan Hormes 2010 in der WAZ zu sagen: „Unna ist eine Stadt ohne Bedeutung.“ BÄM.


Hinzu kommt: Unna ist ein Sandwich-Kind, mittendrin und nichts so wirklich. Aus Richtung Westfalenprovinz kommend ist man bis oben hin übersatt von hübschem Fachwerk, wird also von der zugegeben überraschend malerischen Innenstadt nicht ganz so stark beeindruckt sein. Aus Richtung Pott, also Dortmund, Essen, Oberhausen et al kommend wiederum fällt das zart Urbane, das sich in Unna durchaus Bahn bricht, kaum ins Auge. Aber: Vielleicht ist nun gerade dieses zwischen den Stühlen stecken das eigentliche Aushängeschild der knapp 60.000 Einwohner fassenden Mittelstadt (noch so ein deutscher Begriff für ebenjenes).


Wo die Ruhrgebiet-Schnauze plötzlich zart klingt


Setzen wir hier und heute an, dann lässt sich Unna durchaus als eine Art Ruhrgebiet light erleben. Plötzlich ist da diese raue Herzlichkeit, die typische Schnauze, wie man im Pott sagt. „Vieles, das sich im Ruhrgebiet bedrohlich oder gar echt gefährlich anhört, ist es gar nicht, “ klärt die Website ruhrgebietssprache.de auf. In Unna wiederum muss man keine Sorgen haben, allzu harsch angegangen zu werden, hier klingt die Schnauze plötzlich fast zart, eher kumpelhaft und unkompliziert – eben ganz so, wie das eigentlich auch gemeint sein soll. Dann sitzt man vielleicht in einer lauen Sommernacht im weißen Plastikgartenstuhl vor dem Pizza-Imbiss „Casa Mia“ und liest sich gegenseitig die Wettervorhersagen für den nächsten Tag vor (es soll schön werden). „Dat will ich aba ersma seh’n!“ raunt es da plötzlich recht laut von hinten, der Pizzabäcker hat sich ins Gespräch eingeschaltet, nur sein süffisant nach oben gezogener Mundwinkel zeigt an, dass es sich hierbei um eine Solidaritätsbekundung mit seinen Gästen handelt. Der ortstypische Pragmatismus kann außerdem durchaus charmant sein: Ob man wohl noch ein wenig Sauce für den Pizzarand haben dürfe? Nach umständlicher Suche und Erklärungen – „Ich hab‘ leider gerade keine Saucière da“ – stehen plötzlich zwei große Plastikflaschen mit Industriesoße auf dem Tisch, auf dass der Gast sich selbst bedienen möge, und zwar reichlich.


Betrachtet man Unna wiederum retrospektiv, dann war da viele Jahrhunderte überhaupt noch kein Ruhrgebiet am westlichen Rand der Region: Seine über 1000-jährige Geschichte als ehemals wichtige Handelsstation der Hellweg-Region verdankt Unna einige hübsche Bauwerke, die man wie die Altstadt am besten bei einem kleinen Rundgang entlang der historischen Stadtwälle erkundet. Im Nordosten liegt die kleine Burg Unna, in dem heute das Hellwegmuseum untergebracht ist, im Süden die Überreste des Eulen- oder Ölckenturms, und mittendrin der Marktplatz mit seinen zahlreichen angrenzenden Gässchen und dem typischen Schwarz-Weiß Fachwerk. Wer bis nach Sonnenuntergang bleibt: Ein Rundgang mit dem Nachtwächter ist keine schlechte Idee, wird aber nur ein Mal pro Monat angeboten; ein paar Kneipen gibt es auch. Beim Kulturzentrum Lindenbrauerei könnte man kurz vorbeischauen, allein der Industrieromantik wegen. Und von dort aus einfach ein paar Schritte hinüber, zum Zentrum für Internationale Lichtkunst.


Für diese Kunst müssten Sie sonst nach Arizona reisen


Kunst fernab der Metropolen, das ist bekanntlich ein durchwachsenes Kapitel. Einiges, was da von öffentlicher Hand finanziert und zur Stadtverschönerung vor Poststellen, Stadtmuseen oder auf unbelebte Plätze geknallt wird, schaut schlicht scheußlich aus oder ist derart mit Pädagogik überfrachtet, dass es eher permanenter Mahnung als einem Kunstwerk gleichkommt.


Die Provinz hat aber auch ihre Vorzüge: Vielleicht ist eine Institution wie das 2001 eröffnete Lichtkunstzentrum – immerhin das einzige seiner Art weltweit – nur hier möglich, ohne direkte Konkurrenz zu den großen Ausstellungshäusern und ohne den Zwang zum permanenten Hype. Das Ticket besorgt man sich in einer Art Mehrzweckgebäude, in dem auch die Stadtbibliothek und die Volkshochschule untergebracht sind. Die Lichtinstallationen lassen den kleinstädtischen Eindruck dann schnell vergessen, auch wenn ein englischsprachiger Besucher auf seinem Blog richtig anmerkte: „There’s no Dan Flavin or Bruce Nauman here…“. Okay, dafür aber zum Beispiel ein Olafur Eliasson. Und ein James Turrell, oder seit 2009 sogar zwei: Neben einer Arbeit im Lichtparcours hat die amerikanische Land Art-Ikone den „Third Breath“ geschaffen, eine Installation, die genau auf die Lichtverhältnisse in der Westfalenstadt abgestimmt wurde. Unten befindet sich eine Camera Obscura, die den aktuellen Himmel auf den Ausstellungsboden projiziert, oben kann man in den Sommermonaten im Skyspace Platz nehmen und den Sonnenuntergang in exakt berechneter Kombination aus künstlichem und natürlichem Licht an sich vorbeiziehen lassen. Das ist pure, wunderschöne Physik! Für ein ähnliches Erlebnis müssten Sie sonst irgendwann nach Arizona, wo der Künstler seit 1974 und bisher unvollendet am „Roden Crater Project“ in den Tiefen eines Vulkans arbeitet. Oder in einen der weltweit über 80 Skyspaces an Orten wie Texas, Salzburg, Jerusalem. Die Kombination aus Camera Obscura und Skyspace hingegen gibt es bisher einzig in Unna (und irgendwann vielleicht in Arizona).


Generell scheint die Stadt ein besonderes Faible für den sichtbaren Part elektromagnetischer Strahlung zu haben: Alle zwei Jahre veranstaltet Unna gemeinsam mit der Partnerstadt Pisa „das größte italienische Fest jenseits der Alpen“ und nennt es tatsächlich „Un(n)a Festa Italiana“. Hier dreht sich alles um die perfekte Illuminazione, und die ist prächtig und bombastisch, das Großevent-Pendant zur Hochkultur im Lichtkunstzentrum: Knallbunte Lichterbögen und künstlich errichtete Kathedralen aus Licht durchziehen dann die nächtliche Fußgängerzone, dazu marschieren kostümierte Garden aus Pisa durch die Gassen, und man trinkt ordentlich Prosecco.


Wenn Ihnen Unna doch irgendwann zu öde wird, dann fahren Sie ins richtige Ruhrgebiet (24 Minuten mit der Bahn nach Dortmund). Und wenn Sie ganz zum Schluss, wenn der Sonnenuntergang vollendet ist und der Skyspace plötzlich ausschaltet, ein wenig Wehmut überkommt, dann können Sie danach immer noch irgendwann nach Arizona reisen (oder Salzburg, Texas und so weiter). Oder Sie kommen nochmal wieder, denn im Zentrum für Internationale Lichtkunst muss man, im Gegensatz zu den Dreh- und Angelpunkten der Kunstwelt, eher selten anstehen.





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