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Sigrid Hjertén: Radikal modern

Der Name lautet schlicht Ateljéinte­riör, Atelier-Inte­ri­eur also. Es gehört zu den bekann­tes­ten Bildern von Sigrid Hjertén, und wer es einmal ange­schaut hat, der wird kaum glau­ben können, dass dieses Motiv nahezu exakt 100 Jahre alt ist: Die schwe­di­sche Male­rin porträ­tiert sich hier gleich doppelt, einmal mitten­drin im Atelier und einmal mit Beglei­tung, wie Zuschauer am Rande eines schö­nen Spek­ta­kels. Pastell­far­be­nes Licht fällt durch die riesi­gen Fens­ter, über­haupt ist alles zart gefärbt, Türkis die Wände, auf dem Sofa davor sitzt eine Frau umringt von zwei Männern. Es ist die Male­rin selbst, wie sich bei nähe­rem Hinse­hen heraus­stellt, einer der beiden ihr Ehemann Isaac Grün­wald. An der Wand hängt ein Frau­en­por­trät, auf der ande­ren Seite des Sofas steht eine Skulp­tur, vor dem Sofa ein Teeser­vice.



So spezi­ell die Farben und so modern die Art ihrer Insze­nie­rung, das wirk­lich Radi­kale an Ateljéinte­riör ist, wie Sigrid Hjertén ihre eigene Lebens­si­tua­tion in Szene setzt – zwei Rollen, auf einem Bild vereint, aber eben doch in ihrem Wider­spruch weiter­hin sicht­bar. Als Beob­ach­te­rin des Gesche­hens strotzt die Male­rin vor Selbst­be­wusst­sein: Die Beine lässig über­ein­an­der­ge­schla­gen, sitzt sie dort in ihrem todschi­cken schwar­zen Kleid mit dem Feder­be­satz und den hohen Stie­feln und wirkt sicht­lich amüsiert. Ihr Beglei­ter ist nicht ihr Ehemann, auch dies ein Tatbe­stand, den das Bild sehr deut­lich heraus­stellt. Sie bildet, keine Frage, den eigent­li­chen Mittel­punkt des Gesche­hens, sie ist die Köni­gin, die ihrem Sohn den Rücken zuwen­det – der Junge tritt mit seinem blass türkis­far­be­nen Gesicht, dersel­ben Farbe von Wand und Decke, auch farbsym­bo­lisch in den Hinter­grund.

Die Ambivalenz der eigenen Rolle

Nun war Sigrid Hjertén ganz gewiss keine Raben­mut­ter, was auch immer das im Einzel­nen heißen mag. Die schwe­di­sche Male­rin porträ­tierte Ivàn – genau wie ihren Mann, über­haupt ihr nahe­ste­hende Menschen - immer wieder, verbrachte viel Zeit mit ihm im Atelier. Beein­dru­ckend und radi­kal modern ist gerade die Ambi­va­lenz, die aus diesem Bild spricht: Nicht ohne Selbst­iro­nie defi­niert sich Hjertén in einem einzi­gen Bild zugleich als Male­rin wie als Mutter, mit Ehemann und mit einem Beglei­ter, bei dem es sich Vermu­tun­gen zu Folge um den Maler­kol­le­gen Nils von Dardel handeln könnte. Ganz selbst­ver­ständ­lich nimmt sie diese Doppel-, man müsste eher sagen: Multi-Rolle für sich in Anspruch, was eben einschließt, dass eine Frau viel­leicht nicht in allen Momen­ten primär Mutter oder auch Ehefrau sein muss und möchte.

Dass eine für den Beginn des 20. Jahr­hun­derts übli­che Lauf­bahn nicht das rich­tige für sie wäre, musste Sigrid Hjertén früh klar gewe­sen sein. 1885 wird sie im schwe­di­schen Sund­vall gebo­ren, ihre Eltern sind wohl­ha­bende Kauf­leute. Die Ausbil­dung zur Zeichen­leh­re­rin genügt ihren eige­nen Ambi­tio­nen nicht, sie entschließt sich zu einem Textil­stu­dium in Groß­bri­tan­nien. Aus dem Plan wird nichts, aus der Künst­ler­kar­riere schon: Mit Mitte 20 lernt Hjertén ihren späte­ren Mann Isaac Grün­wald kennen, der sie von Anfang an in ihrem Vorha­ben unter­stützt und die junge Stock­hol­me­rin über­re­det, ihm nach Paris zu folgen. An der Académie Matisse wird sie viel­be­ach­tete Schü­le­rin des gleich­na­mi­gen Malers, der ihren Stil anfangs noch stark prägt.

Wegbereiterin der Moderne

Neben außer­or­dent­li­chem Talent zeich­net sich Sigrid Hjerténs Werk durch ihre erstaun­li­che Produk­ti­vi­tät aus – erstaun­lich insbe­son­dere, wenn man bedenkt, dass sie, wie in ihrem berühm­ten Bild ange­deu­tet, zwischen verschie­de­nen Rollen und den damit verbun­de­nen Ansprü­chen jonglie­ren musste. Im Laufe ihrer insge­samt rund 30-jähri­gen Tätig­keit als Künst­le­rin hat sie so Hunderte von Bildern ange­fer­tigt und an über 100 Ausstel­lun­gen, darun­ter mehre­ren von DER STURM-Gale­rist Walden, teil­ge­nom­men. 

Sigrid Hjertén - Portrait of the Artist Isaac Grünewald, 1918 via Pinterest

Eine Mono­gra­fie über Sigrid Hjertén ist „Wegbe­rei­te­rin des Schwe­di­schen Expres­sio­nis­mus“ beti­telt. Tatsäch­lich kann der Einfluss von Hjertén auf die schwe­di­sche Moderne nicht genug betont werden, umge­kehrt blieb auch sie offen für unter­schied­lichste Strö­mun­gen und Anre­gun­gen von Maler­kol­le­gen erst in Paris und später in Stock­holm, was sich in ihrem großen Stil­spek­trum wider­spie­gelt. Neben der mitun­ter auch durch­aus selbst­iro­ni­schen Motiv­wahl und den ausdrucks­star­ken Figu­ren zeich­nen sich ihre Bilder durch den oft extra­va­gan­ten Einsatz von Farbe aus.

In Stockholm diagnostiziert man Schizophrenie

Wer Sigrid Hjerténs Werk chro­no­lo­gisch betrach­tet, der bemerkt in ihren Bildern ab den späten 1920er-Jahren eine zuneh­mende Verän­de­rung: Die Farben werden düste­rer, die Motive einsa­mer, viele Bildern wirken regel­recht span­nungs­ge­la­den. In dieser Zeit beginnt Hjerténs psychi­sche Erkran­kung, die sich erst in klei­ne­ren psycho­so­ma­ti­schen Leiden äußert und trotz zwischen­zeit­li­cher Erho­lun­gen nie ganz kurie­ren lässt. Ob diese inne­ren Span­nun­gen auch der Zerris­sen­heit zwischen äuße­rem Anspruch und eige­nem Leben geschul­det ist, der vor knapp 100 Jahren für eine Frau noch­mals deut­lich zermür­ben­der gewe­sen sein muss, bleibt zumin­dest eine mögli­che Deutung.

In jedem Fall klagt Sigrid Hjertén über zuneh­mende Einsam­keit: Isaac Grün­wald, der während der Ehe verschie­dene Geliebte hat, zieht nach Schwe­den zurück, sie bleibt zunächst in Paris. Später zieht sie ihm nach. In Stock­holm diagnos­ti­ziert man Schi­zo­phre­nie, nach einer Behand­lung geht es der Künst­le­rin besser, und sie beginnt wieder zu malen. Ende der 30er-Jahre schließ­lich wird das Leiden über­mäch­tig. Es folgen keine weite­ren Bilder aus dem Atelier von Sigrid Hjertén. Zehn Jahre später stirbt die schwe­di­sche Male­rin an den Folgen einer Lobo­to­mie, die zur dama­li­gen Zeit als Heil­mit­tel gegen schwere psychi­sche Erkran­kun­gen galt

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