Karl Urban

Freier Wissenschaftsjournalist, Tübingen

3 Abos und 1 Abonnent
Artikel

Ein Teleskop ist auch nur ein Bahnhof?

Großprojekte wie Stuttgarts neuer Tiefbahnhof werden oft viel teurer als anfänglich veranschlagt. Das neue Weltraumteleskop von NASA und ESA zeigt verblüffende Parallelen.

Die Weltraumreporter - Aktuelles und Hintergründiges zum Geschehen im Kosmos

Ein Kommentar von Karl Urban

In Wien versammeln sich noch diese Woche die Astronomen der Welt, um sich über aktuelle und zukünftige Herausforderungen ihres Fachs auszutauschen. Dazu gehört auch die nächste Generation großer Teleskope, die in der Lage sein werden, das astronomische Weltbild maßgeblich zu prägen. Eine ganze Reihe von Vorträgen beschäftigt sich einzig mit dem James-Webb-Teleskop, das nach seinem Start eine fast sieben Mal größere Spiegelfläche zur Verfügung haben wird als das Hubble-Teleskop, welches es ablösen wird. Doch in den letzten Jahren machte das James-Webb durch andere Superlative von sich reden: Es wird immer teurer und sein Start verzögert sich immer weiter - und das in merkwürdiger Parallelität zu anderen öffentlich finanzierten Großprojekten, die uns in Deutschland viel vertrauter sind.

Kostenexplosion(en)

Der Berliner Großflughafen BER, Stuttgarts Tiefbahnhof S21 und das James-Webb-Weltraumteleskop: Ein Vergleich dieser drei scheint sich geradezu anzubieten. Ihre Planungsphasen starteten zu ähnlichen Zeitpunkten (1995, 1995, 1996), in allen drei Fällen mit anfänglich moderaten Kostenschätzungen (770 Millionen Euro, 2,5 Milliarden Euro, 425 Millionen Euro). Alle drei wurden zwar von öffentlichen Institutionen in Auftrag gegeben, aber von Privatunternehmen ausgeführt. Und alle drei erlebten über die Jahre erhebliche Kostensteigerungen, wodurch sich auch das Datum ihrer Eröffnung (oder des Starts ins All) in eine bis heute nicht ganz sichere Zukunft verschob.

Das James-Webb-Teleskop passt auch aus einem weiteren Grund gut in diese Reihe, wenn man sich die Gründe für den Weiterbau trotz der Kostenexplosion auf heute 9,7 Milliarden Dollar (8,2 Milliarden Euro) vor Augen führt: Es ist offensichtlich too big to fail.

Das Teleskop soll an die Erfolge des Hubble-Teleskops anknüpfen; Forscher haben dank der mit Hubble gewonnenen Bilder und Spektren mehr als 13.000 wissenschaftliche Veröffentlichungen verfasst. So stellten Astronomen dank Hubble überrascht fest, dass sich das Universum immer schneller ausdehnt. Ähnlich Großes soll auch das James-Webb-Teleskop leisten: „Es ist als allgemeines Observatorium für die gesamte astronomische Gemeinschaft konzipiert worden. Dazu zählen Forscher, die gerne Sterne studieren, Galaxien, die Kosmologie, Exoplaneten oder deren Atmosphären," sagte mir Kevin Heng vom Center for Space and Habitability an der Universität Bern. Er ist ein starker Befürworter eines so großen Weltraumteleskops.

Genau wie der neue Flughafen der Bundeshauptstadt (BER) oder der Bahnhof einer der wirtschaftlich dynamischsten Großstädte Deutschlands (S21) ist ein Abblasen, Abreißen, Einstampfen schlicht keine Option, während ein Tieferlegen (des Bahnhofs) oder Umplanen des gesamten Großprojekts zumindest das Risiko weiter steigender Kosten ab einem bestimmten Zeitpunkt des Baufortschritts nicht mehr zu senken vermag. Es muss weitergebaut werden, bis zum bitteren Ende. Sonst hat Berlin keinen Flughafen, Stuttgart keinen Bahnhof und die Astronomen: kein Großteleskop im All.

Dieses erzwungene und finanziell schmerzhafte Weiter so des öffentlichen Auftraggebers ist derweil ein Segen für den privaten Auftragnehmer. Der füllt seine Auftragsbücher über Jahrzehnte und kann eigene Planungsfehler im Rahmen der ohnehin zu erwartenden neuen Kostensteigerungen leicht kaschieren. Beim James-Webb-Teleskop erfüllt diese Rolle vor allem der US-Rüstungskonzern Northrop Grumman, seit dem ersten Tag wichtigster Auftragnehmer. Astronomen sprachen fast ehrfürchtig von dem Unternehmen, denn der 6,5 Meter große Spiegel aus 18 Einzelsegmenten, die sich erst im All entfalten, ist für zivile Satelliten völliges Neuland. Im Rüstungs- und Überwachungsmarkt hingegen, sind vergleichbare Riesenspiegel bereits zum Einsatz gekommen. Allerdings waren die nicht ins All, sondern als riesige Lauschantennen auf die Erde gerichtet.

Von Äpfeln und Birnen

Es liegt indes in der Natur eines Vergleichs, dass er bei allzu genauem Hinsehen immer schief werden muss. So auch hier: Große öffentliche Bauprojekte zeichnet ihre innewohnende Komplexität aus. Viele Akteure arbeiten zusammen; tausende Menschen sind beschäftigt. Selbst wenn nur einzelne Subunternehmer zu langsam vorankommen, müssen möglicherweise viele Facharbeiter projektweit über Monate und Jahre weiter beschäftigt werden, was die Kosten ganz ohne illegale Machenschaften weiter in die Höhe treibt. Bei öffentlichen Geldgebern und Milliardensummen können auch Presseberichte, Demonstrationen oder ein politischer Richtungsumschwung dazu führen, dass ein Projekt umgeplant und dadurch letztlich teurer wird. Der Juchtenkäfer lässt grüßen, der bei Stuttgart-21 immer wieder Baustopps auslöste: Das unter Naturschutz stehende Tier ist ein Symbol dafür, dass einfache Erklärungen wie raffgierige Unternehmen oder im Controlling unerfahrene Politiker zumindest nur ein Teil der Wahrheit sind.

Das James-Webb ist nun weder ein Bahnhof, noch ein Flughafen. Als die Arbeiten an dem Teleskop 1996 begannen, war gar nicht klar, ob und wie alle der geforderten technischen Anforderungen überhaupt gelöst werden könnten. Das traf neben dem Spiegel auch auf das komplizierte Kühlsystem mit verschiedenen Ebenen aus einer Tennisplatz-großen Spezialfolie zu. Da verwundert es nicht, dass eine der Ursache für die jüngste Kostensteigerung in dieser neu entwickelten Technologie steckt, die den Teleskopspiegel und die empfindlichen Instrumente gegen unerwünschte Strahlung von Erde und Sonne abschirmen muss.

Ein weiterer Unterschied: Das Weltraumteleskop dient der Grundlagenforschung. Deren Erkenntnispotential lässt sich bekanntlich nur mäßig gut abschätzen und erst recht nicht exakt vorhersagen. Während Ingenieure in den letzten 21 Jahren am James-Webb-Teleskop tüftelten, machten die Astronomen weltweit bahnbrechende Entdeckungen. Beispielsweise waren 1996 gerade die ersten Exoplaneten entdeckt worden und es war kaum absehbar, dass dieses damals exotische Forschungsfeld im Jahr 2018 zu einem der wichtigsten der Astronomie heranwachsen würde. Nun wird das James-Webb-Teleskop schon in der ersten wissenschaftlichen Forschungsphase mindestens ein Viertel seiner Zeit solchen Exoplaneten widmen. Der Teleskopspiegel ermöglicht erstmals Einblicke in die chemische Zusammensetzung kleinerer Planeten um ferne Sonnen. Astronomen glauben, dass der Anteil der Exoplanetenforschung im Verlauf er Mission sogar noch zunehmen wird.

Allein die Bedeutung des Teleskops für den größten Teil der Astronomengemeinde hat zur Folge, dass das James-Webb trotz seines stolzen Preises einfach starten muss. Und wenn es einmal im Orbit ist und wie erwartet funktioniert, wird es einen Vorteil ausspielen, den ein Tiefbahnhof oder ein Großflughafen nicht besitzen: Mit dem 6,5 Meter großen Spiegel im All wird die Menschheit ins Unbekannte blicken, etwa auf die jüngsten Galaxien des Universums. Es werden auch Dinge darunter sein, die wir zuerst gar nicht verstehen und die schließlich den menschlichen Horizont erweitern werden. Und es wird Bilder aus dem Kosmos geben, die noch Generationen für die Astronomie begeistern werden.

Liebe Leserin, lieber Leser, dieser Artikel ist Teil des Startangebots von "Die Weltraumreporter - Ihre Korrespondenten aus dem All". Noch lesen Sie hier kostenfrei, was Sie journalistisch und thematisch erwartet. Gerne können Sie uns bereits jetzt finanziell unterstützen: Zum Förder-Abo.

Autor Karl Urban

Veröffentlicht am Geschätzte Lesezeit

4 Minuten

Schlagwörter

Raumfahrt Teleskope
Zum Original