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Das Ohr an die Stadt halten

Von Julius Bretzel, Giesing

Eine Frau kommt zielstrebig zum Infostand des Ministeriums für Einsamkeit und fragt misstrauisch: "Gibt es das denn wirklich in Deutschland?" Sabine Böhlau und ihr Team klären sie auf: Es handelt sich um eine Kunstaktion. Damit hat die Besucherin nicht gerechnet - und schon beginnt ein Gespräch, das schlussendlich eine knappe Stunde dauert. Später kommt sie mit einem Buch zurück und liest ein Gedicht vor. "Das habe ich gerade entdeckt. Es passt sehr gut", sagt sie. So überraschend verlaufen viele Gespräche am Stand des Projekts "So lonely": Besucher kommen, weil sie irritiert sind, und bleiben, weil sie interessiert sind.

Die Künstler sprechen bei unterschiedlichen Aktionen mit Bürgern über das Thema Einsamkeit in der Großstadt. Die dabei gesammelten Geschichten und Eindrücke sollen kommendes Jahr in einem Theaterprojekt verarbeitet werden. Die Idee dazu kam Böhlau auf dem Friedhof am Perlacher Forst. Als Theologin begleitete sie eine Beerdigung, auf der keine Angehörigen waren. Rund 600 solcher "Bestattungen von Amts wegen" finden jedes Jahr in München statt. Die Verstorbenen sind oft schon zu Lebzeiten einsam, von ihrem Tod nimmt niemand Notiz. "Ich habe mich gefragt, welche Weggabelungen im Leben, welche Entscheidungen und Schicksalsschläge zu dieser Einsamkeit führen", sagt Böhlau. So hat sie sich mit der Regisseurin Anette Weber und dem Dramaturgen Walter Gratz zusammengetan und "So lonely" ins Leben gerufen.

Seit Oktober veranstalten sie mit der Hilfe von engagierten Bürgern sogenannte "künstlerische Interventionen". In den drei Stadtbezirken Au-Haidhausen, Obergiesing-Fasangarten und Untergiesing-Harlaching kommen sie mit den Menschen auf unterschiedliche Weise ins Gespräch und "halten das Ohr an die Stadt", wie Böhlau es nennt. Bei der Intervention in der Obergiesinger Stadtbibliothek am vergangenen Donnerstag - es ist die siebte von acht - gibt es zwei Aktionen: den Infotisch des erfundenen "Ministeriums für Einsamkeit" und "kostenloses Zuhören".

Ein solches Ministerium gibt es bereits in Großbritannien. Seit 2018 soll es der zunehmenden Vereinsamung der Bevölkerung entgegenwirken. Die damalige britische Premierministerin Theresa May bezeichnete das ständige Alleinsein als "traurige Realität des modernen Lebens". Die Münchner Künstlergruppe tut so, als gäbe es ein Pendant in Deutschland. "Es würde sofort funktionieren, es ist Bedarf da", schätzt Böhlau. Tatsächlich forderten bereits deutsche Politiker wie Karl Lauterbach, Gesundheitsexperte der SPD, oder Marcus Weinberg, der familienpolitische Sprecher der Union, eine entsprechende Institution in Deutschland.

Am Stand in der Bibliothek gehen die meisten Besucher zufällig vorbei, die Neugier führt sie dann her. "Viele Leute fragen erst einmal, was das hier ist", sagt Manuela Clarin, die als Helferin am Stand steht. Dann entwickle sich oft ein Gespräch. "Zu Einsamkeit weiß jeder etwas. Viele haben sie schon selbst erfahren, andere kennen Geschichten." Für den Fall, dass sich kein Gespräch entwickelt, bekommen die Besucher Kärtchen mit Aussagen über Einsamkeit, zu denen sie Stellung beziehen sollen. "Einsamkeit ist nur ein Gefühl", steht beispielsweise darauf, oder "Wer einsam ist, ist selber schuld." Etwas abseits stehen ein kleiner Tisch und zwei Stühle zum Sprechen und Zuhören bereit. Dort können Bürger ihre Anliegen und Erfahrungen mit einem Seelsorger oder Psychologen teilen. "Grundsätzlich nimmt man an, dass Menschen nicht über ihre Einsamkeit sprechen, aber es öffnen sich wirklich unglaublich viele", sagt Gratz, der sich die entstehenden Eindrücke und Gespräche für die geplante Theaterproduktion notiert. "Einsamkeit ist nicht nur ein Problem von alten Menschen. Man kann auch jung und einsam sein, als Neuankömmling in einer Großstadt beispielsweise." Das Team von "So lonely" versuche die Thematik von möglichst vielen Blickwinkeln aus zu betrachten und unterschiedlichste Aspekte einzusammeln. Die Einschätzungen der Menschen liefern Aspekte, auf die er bisher noch nicht gekommen ist. "In der Forschungsliteratur ist Einsamkeit zum Beispiel immer als Gefühl beschrieben. Aber die wenigsten Teilnehmer am Infostand stimmen der Aussage dieser Karte zu", stellt Gratz fest. Eine alternative Definition könnten sie aber auch nicht geben.

Wie genau das Theaterstück aussehen wird, wissen die Künstler noch nicht. Bisher stehen nur die Aufführungstermine der drei geplanten Vorstellungen fest: 7., 15. und 16. Mai. Eine Aufführung will das Team in einer Straßenbahn veranstalten, die anderen beiden sollen zum Ursprungsort der Idee zurückkehren und in oder an einem Friedhof stattfinden.

Die partizipative Theateraktion soll helfen, die Thematik aus der "Tabu-Zone" herauszuholen. "Einsamkeit ist sehr schambehaftet", sagt Böhlau. Deshalb sei es wichtig, den Menschen mit Würde zu begegnen. "Die Würde ist die Rückseite der Scham", versucht sie plastisch zu erklären und nimmt zur Veranschaulichung ihre Handfläche zur Hilfe. Wer sich für seine Einsamkeit schäme, spreche nicht mehr mit anderen, was wiederum die Einsamkeit verstärke. Schon bei den Gesprächen während der Interventionen beginne die Verwandlung von Einsamkeit zur Gemeinschaft. "Man müsste nur einen Ort schaffen, an dem die Menschen miteinander reden können. Das würde Unglaubliches bewirken", sagt Böhlau. Dies umzusetzen, sei aber nicht ihre Aufgabe. In München seien bereits soziale Einrichtungen, Bürgertreffs oder Altenzentren bemüht, zu solchen Anlaufstellen für einsame Menschen zu werden. Das Team von "So lonely", die selbsternannten Einsamkeitsminister, halten weiter das Ohr an die Stadt, sammeln Eindrücke, laden Bürger zum Nachdenken ein. "Und vielleicht gibt es ja irgendwann ein echtes Ministerium für Einsamkeit", spekuliert ein Besucher der Intervention.

Die nächste Intervention von "So lonely" mit einer Autorenlesung und Gesprächen ist am Donnerstag, 5. Dezember, von 19 Uhr an in der Stadtbibliothek Giesing an der Deisenhofener Straße 20. Eintritt frei. Informationen unter www.kairosis.de.
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