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Besetzte Gerhart-Hauptmann-Schule - das große Scheitern

Seit 2012 ist die Gerhart-Hauptmann-Schule besetzt. Wie die Politik im Kampf um ein Symbol versagt hat.


Neunmal sticht Nfamara J. zu. Im Streit um die einzige Dusche eskaliert die Lage in der überfüllten Hauptmann-Schule. Sein Opfer, der Marokkaner Anwar R., verblutet noch am Tatort. Es ist der 25. April 2014. Die Tat katapultiert die von Flüchtlingen besetzte Gerhart-Hauptmann-Schule in Kreuzberg damals bundesweit in die Schlagzeilen. Der Tod von Anwar R. war der Tiefpunkt im Ringen um einen Ort, der seit seiner Besetzung immer mehr war als irgendein besetztes Haus in Kreuzberg. Ein Ort, der als politisches Symbol gebraucht wurde. Und missbraucht: von den Flüchtlingen selbst, ihren Unterstützern, dem links-grün regierten Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg, genauso wie vom damals rot-schwarzen Berliner Senat.

Nun ist es vorbei. Fast fünf Jahre nachdem die ersten Flüchtlinge in die Schule zogen und mehr als drei Jahre nachdem Anwar R. in der Dusche starb: Es wird geräumt. Anfang Oktober hatte die grüne Bezirksbürgermeisterin Monika Herrmann den Gerichtsvollzieher angewiesen, die Räumung zu vollstrecken. Die Räumung beendet fast fünf Jahre, die dokumentieren, wie Politik und Staat versagt haben.


Ein Rückblick: Am 8. Dezember 2012 besetzten Flüchtlinge, die am Kreuzberger Oranienplatz gegen die deutsche Asylpolitik protestierten, die leer stehende Schule an der Reichenberger Straße 131. Kurz darauf wohnten bereits mehrere Hundert Menschen dort. Monika Herrmanns Amtsvorgänger, Franz Schulz (Grüne), tolerierte die Besetzung. Auch Herrmann, die 2013 Bürgermeisterin wurde, stand lange hinter den Besetzern und ihren Zielen. Erst im Jahr 2014 wendete sich das Blatt: Die baulichen und hygienischen Zustände in der Schule waren katastrophal und immer mehr Menschen zogen ein: Flüchtlinge, aber auch Roma-Familien und Obdachlose. Der Tod von Anwar R., Dutzende Polizeieinsätze wegen Prügeleien oder Drogendelikten - auch in Kreuzberg wollte man das selbstverwaltete Elendsquartier nicht länger akzeptieren.


Flüchtlinge wurden toleriert, weil es Winter war

Heute, so erzählt Monika Herrmann, erkennt sie, dass man damals naiv gewesen sei. "Franz Schulz hat die Flüchtlinge toleriert, weil es Winter war - wir hatten Angst, dass auf dem Oranienplatz jemand erfriert." Unterstützer der Flüchtlinge hätten zugesagt, im März 2013 die Schule wieder zu räumen. Das aber ist nie passiert. "Spätestens dann hätte man aufmerksam sein müssen, was Absprachen mit den Besetzern angeht", sagt Herrmann.

Gerade anfangs sei die Besetzung für die linken Kreuzberger Grünen auch ein politisches Zeichen an die Bundesregierung gewesen. "Damals in der Schule und am Oranienplatz wurde die schlimme Lage von Flüchtlingen ja erstmals richtig diskutiert." Anfangs habe man die Idee gehabt, dort ein selbstverwaltetes Flüchtlingszentrum aufzubauen. "Dann haben wir irgendwann gemerkt, dass das nicht funktioniert", erzählt die 53-Jährige. "Da war's aber schon ein bisschen spät."


Der Bezirk hatte sich in eine missliche Lage manövriert: Man hatte die Flüchtlinge selbst eingeladen, unterstützte ihre Ziele, doch musste einsehen, dass das Zusammenleben Hunderter traumatisierter Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen nicht ohne Weiteres funktionierte. Eine, die damals immer wieder in der Schule war, beschreibt es so: "Die Menschen darin hielten sich nicht daran, wenn wir da einen Strich gemalt und gesagt haben ,Das ist jetzt der Schutzraum für Frauen'; schon gar nicht, wenn sie traumatisiert waren oder gekifft hatten." Eine hehre Idee schien sich in Luft aufzulösen, die politischen Ideale der Kreuzberger Grünen scheiterten an der Praxis.


Erst durch den Tod von Anwar R. kam politisch Bewegung in den Fall

Eine Räumung war trotzdem lange keine Option: "Wir wollen die Leute nicht auf die Straße schicken, wir wollten, dass die andere Unterkünfte bekommen", sagt Herrmann heute. Lange habe sich niemand aus dem Senat um die Not des Bezirks gekümmert. "Das hat doch da niemanden interessiert."


Erst durch den Tod von Anwar R. kam politisch Bewegung in den Fall Hauptmann-Schule. Man sah sich auch im Senat gezwungen, dem Bezirk bei seinem Problem zu helfen. Der damalige Sozialsenator Mario Czaja (CDU) stellte Unterbringungsmöglichkeiten für die Menschen bereit, die sich in der Schule aufhielten. Viel zu spät, wie Herrmann heute sagt. Denn vor allem der glücklose Innensenator Frank Henkel (CDU) brauchte die Schule als Symbol: Als Symbol für das Scheitern der linken Kreuzberger Träume, als Mahnmal dafür, was passiert, wenn quasi-anarchische Zustände in der Stadt akzeptiert werden.

Dafür missachtete er die von Senatsvertretern mit den Flüchtlingen ausgehandelte Kompromisse, wie ihre Asylanträge in Berlin wohlwollend prüfen zu lassen. Herrmann klingt verbittert, wenn sie sagt: "Das war ja damals ein riesen Polit ...", sie stockt und ergänzt: "...Theater." Mitgemacht hätten alle; der Senat, der Bezirk, die Flüchtlingsaktivisten und verschiedene Bundestagsabgeordnete. "Da hat jeder so sein Spielchen gespielt", sagt Herrmann.


So erreichte die Tragödie um die Schule Ende Juni 2014 ihren Höhepunkt. Der Bezirk wollte die Schule nun doch räumen, der Sozialsenator hatte mittlerweile Unterkünfte für die mehr als 300 Menschen in der Schule organisiert. Als die Busse am 26. Juni anrollten, saßen die meisten auf gepackten Koffern. Aus Angst vor Zusammenstößen mit Linksextremen hatte der Bezirk ein Großaufgebot der Polizei angefordert. Was folgte, waren chaotische Tage: Mehr als 1000 Polizisten schützten die Schule davor, von linken Aktivisten gestürmt zu werden. Die meisten Menschen in der Schule gingen freiwillig. Einige der Besetzer liefen jedoch auf das Dach.


Der Bezirk garantierte den weiteren Verbleib in der Schule

Dort drohten sie, aufgeputscht von den Menschen auf der Straße, sich vom Dach zu stürzen, falls geräumt werde. Sie sollen Ausweispapiere, Longpaper und Pizza gefordert haben, unfähig, ernsthaft zu verhandeln. Unbekannte vergossen zur gleichen Zeit Benzin in der Schule, man drohte, das Gebäude anzuzünden. Sieben Tage lang verhandelten Unterhändler und Mitglieder des Bezirksamtes mit den Besetzern auf dem Dach. Am Ende unterschrieben beide Seiten auf dem Schuldach in letzter Minute ein kleines, kariertes Blatt Papier, handschriftlich. Der Bezirk garantierte den weiteren Verbleib in der Schule und Sozialleistungen für die Besetzer. Um zu verhindern, dass das Haus sich mit weiteren Flüchtlingen füllt, stellte der Bezirk einen Wachschutz ein, der seither jährlich etwa eine Million Euro kostet.


Der Zettel, den die Bezirksvertreter unterschrieben hatten, war allerdings voll von Forderungen, die sie nie hätten erfüllen können: Die Bewohner in der Schule waren nicht berechtigt, Sozialhilfe zu empfangen, und auch Ausweispapiere kann der Bezirk nicht ausstellen - auch wenn Monika Herrmann heute noch sagt, sie hätte am liebsten allen "den Friedrichshain-Kreuzberg-Ausweis in die Hand gedrückt". Für Ex-Senator Mario Czaja allerdings ist heute klar, dass der Bezirk eine Situation geschaffen hatte, die für alle Beteiligten nahezu ausweglos wurde.


"Einzelne Oppositions-Abgeordnete und einige Verantwortliche im Bezirk haben den Eindruck vermittelt, dass sie ein Recht außerhalb des Rechtsstaates schaffen können." Bei den Flüchtlingen in der Schule sei so der Eindruck entstanden, dass ihre Aktion völlig legitim sei. "Dadurch wurde eine solch überhöhte Erwartungshaltung geschaffen, die letztendlich auch zu Aggressivität geführt hat, als man diese nicht erfüllen konnte." Doch auch im Senat, lässt Czaja durchblicken, hätten nicht alle in dieselbe Richtung gesteuert. "Da war zum einen der Umgang im Senat untereinander, der nicht auf eine Lösung hin orientiert war und zum anderen die mangelnde Kooperationsbereitschaft zwischen der Landesregierung und dem Bezirk in dieser Krisensituation."


"Henkel brauchte die Bilder für sein eigenes Image als harter Hund"

Der damalige Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) hielt sich aus dem Thema heraus, und Ex-Innensenator Henkel wird parteiübergreifend nachgesagt, sich weder an Absprachen gehalten, noch Interesse signalisiert zu haben, die Situation um die Schule zu befrieden. "Ich hatte nicht den Eindruck, dass diejenigen im Roten Rathaus, die eigentlich für die Suche nach einer Lösung verantwortlich waren, sich in irgendeiner Form an der Problemlösung beteiligt haben", beschreibt Czaja. Herrmann nennt Henkel aus heutiger Sicht überfordert: "Er war zerrieben zwischen den Fronten, so wie ich vielleicht auch."

Die Bezirksbürgermeisterin zermürbt zwischen den Flüchtlingsaktivisten, die sie eine Rassistin schimpften und den vielen auch in der eigenen Partei, die den Zustand für untragbar hielten; Henkel zwischen konservativen Hardlinern in der CDU und den Pragmatikern, die den Ausnahmezustand in Kreuzberg beenden wollten. Der Innensenator, heißt es aus CDU-Parteikreisen, habe nicht nur einmal einer Lösung im Weg gestanden.


Die grüne Bezirksbürgermeisterin wirft Henkel gar vor, die Polizei bewusst angewiesen zu haben, die Besetzung nicht geräuschlos enden zu lassen. "Er brauchte die Bilder unseres chaotischen Bezirks für sein eigenes Image als harter Hund", so Herrmann. Im Herbst und Spätsommer des Jahres 2014, das bestätigen weitere Beteiligte, wäre die Polizei in den frühen Morgenstunden wegen Brandschutzprüfungen im Haus gewesen.

Der Einsatzleiter bot dem Bezirk an, die verbliebenen Flüchtlinge wegen Mängeln im Brandschutz aus dem Haus zu bringen. "Dann hätten wir das Gebäude versiegelt, und es wäre niemand zu Schaden gekommen", sagt Herrmann. Wenige Minuten später aber habe sich der Einsatzleiter telefonisch gemeldet. "Er sagte, es tue ihm leid, aber er dürfe nicht räumen; Befehl von ganz oben." Frank Henkel, der heute Abgeordneter im Abgeordnetenhaus ist, redet nicht mehr über die Hauptmann-Schule. Er stehe dafür "leider nicht zur Verfügung", so Henkel. Konfrontiert mit den Vorwürfen der Bezirksbürgermeisterin reagiert sein Büro nicht mehr auf die Anfragen der Berliner Morgenpost.


"Wir haben auf allen politischen Ebenen versagt"

Monika Herrmann sagt, der Kampf um die Hauptmann-Schule habe ihr Leben geprägt. Viele, die mit ihr kämpften sind nicht mehr da, andere, wie Henkel, reden nicht mehr darüber. Herrmann selbst hat damals darüber nachgedacht, warum sie sich das überhaupt antue. Sie sagt heute: "Wir alle, auf allen politischen Ebenen, haben versagt, weil wir nicht über unsere Schatten gesprungen sind. Wir haben das Spiel nur gespielt, wie das Spiel gespielt wird." Dabei scheiterten die Grünen; zerrieben zwischen ihren Idealen und der Realität. Als der Schaden sich anbahnte, ließ die CDU unter der Führung von Frank Henkel den Konflikt eskalieren.


Am Ende des Kampfes stehen kaum Gewinner. Auch, wenn man Monika Herrmann die Freude anmerkt über ihr letztes Wahlergebnis: Die Grünen wurden 2016 mit 32,6 Prozent wieder stärkste Kraft im Bezirk. Sie richtet den Blick nach vorn: Wenn in ein paar Tagen geräumt ist, wird in der Schule der "Campus Ohlauer Straße" aufgebaut: mit Wohnungen für sozial schwache Familien, Obdachlose und - Flüchtlinge.


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