Juliane Ziegler

Freie Journalistin, Frankfurt

5 Abos und 4 Abonnenten
Artikel

Freiwillig in den Knast

"So schnell konnte ich gar nicht reagieren, wie meine Handtasche weg war. Als ich mich umdrehte, sah ich nur noch eine junge, männliche Gestalt wegrennen. Das war ein großer Schreck. Mein Schlüssel, der Ausweis, das Geld, alles weg! Und die Karten für die Oper.
Auf der Polizeiwache stellte sich heraus: Ich war Opfer Nummer sechs. Ich fragte mich: Warum macht ein junger Mann so etwas, wofür braucht er das Geld? Ich bat die Polizei, mir Bescheid zu sagen, sobald sie ihn erwischen, ich wollte ihn treffen. Als sie ihn hatten, besuchte ich ihn in der Untersuchungshaft. 18 Jahre alt, sehr schüchtern. In schwierigen Verhältnissen aufgewachsen.

Er bekam eine unerwartet hohe Strafe: fast fünf Jahre Haft. Eine Erklärung für die Überfälle gab er mir nicht. Aber eine Entschuldigung, immerhin. Ich besuchte ihn im Gefängnis, es gingen ein paar Briefe hin und her. Ich dachte, ich könnte ihm eine Art Oma sein. Aber dann geriet er in eine Clique, die ihm nicht guttat. Wir haben keinen Kontakt mehr mit ihm, leider.
Dafür mit anderen Gefangenen. Denn mein Mann und ich begleiten seitdem vier, fünf Mal im Jahr eine Gefängnispfarrerin in die JVA Waldheim bei Chemnitz. Zu Ostern, Erntedank, im Advent oder zwischendurch. Zusammen mit anderen Ehrenamtlichen bereiten wir den Gottesdienst im Gefängnis vor, und wir  musizieren – mein Mann spielt Bratsche, ich Geige. Danach gibt’s Kaffee und Kuchen, ich bringe Selbstgebackenes mit.

Einmal hatte ich Mohnkuchen dabei. „Warum grinsen einige Häftlinge so?“, wunderte ich mich. Ein Vollzugsbeamter klärte mich auf: Mohn kann die Blutwerte bei Drogentests verändern. Oder dass die Häftlinge bei „Leise rieselt der Schnee“ an Kokain denken – solche Verbindungen hatte ich bis dahin nicht im Kopf.

Meinen ersten Besuch im Gefängnis fand ich beklemmend. Die Türen fielen hinter mir zu, ich war eingeschlossen. Und um mich herum nur Männer. Betrüger, Mörder, Sexualstraf­täter. Da hatte ich wirklich Angst und habe sehr auf Abstand zu den Ge­fangenen geachtet. „Was, wenn dich jetzt einer als Geisel nimmt?“, fing ich an zu spinnen. Heute ist das nicht mehr so, jetzt fühlt es sich eher an, als würden mein Mann und ich zu alten Freunden fah­ren. Nur das Eingeschlossen-Werden, das finde ich immer noch unangenehm.

Die Gefangenen, die an unseren Treffen teilnehmen, sind sehr dankbar, denn für sie sind wir eine Brücke zwischen drinnen und draußen. Wir sprechen viel mit ihnen: Welchen Beruf sie gelernt haben, wo sie gewohnt haben, ob sie Familie haben und wie sie sich ihr Leben nach der Haft vorstellen. Dabei spielt es keine Rolle, ob sie Christen sind oder nicht – neulich zum Beispiel habe ich mich lange mit einem Muslim aus dem Iran unterhalten.

Wir sind keine misstrauischen Leute, aber wir mussten ­lernen, dass wir den Gefangenen nicht alles glauben können. Viele erzählen, sie seien zu Unrecht inhaftiert; oder sie erfinden abenteuerliche Geschichten über ihr Leben. Inzwischen treffen wir Ehrenamtlichen uns regelmäßig mit der Gefängnispfarrerin und einer Sozialarbeiterin, um über solche Situationen zu sprechen. Auch wenn nicht alle Gefangenen es mit der Wahrheit so genau nehmen, versuchen wir, die Häftlinge ernst zu nehmen, wenn sie uns von ihren Sorgen erzählen. Deshalb besuchen wir sie ja: um ein offenes Ohr zu bieten. Aber wir müssen die Distanz wahren, wir dürfen nicht alles glauben.

Zu einigen Gefangenen entwickeln sich richtige Beziehungen, viele treffen wir ja über einen langen Zeitraum. Einer hat uns dann nach seiner Entlassung zu Hause besucht. So kam es, dass wir schon einen Mörder in unserem Garten hatten. „Wie könnt ihr euch nur mit denen abgeben?“ Das hören mein Mann und ich häufig von Bekannten oder Nachbarn. Aber man muss den Menschen von seiner Tat trennen, das ist wichtig. Denn für die Tat wird er bestraft. Ich möchte möglichst gar nicht erfahren, was die Gefangenen getan haben. Ich weiß, dass ich bei Vergewaltigern und Kinderschändern  Probleme hätte, weiterhin offen mit ihnen umzugehen. Den Weg übrigens, auf dem ich überfallen wurde, nehme ich jetzt nicht mehr."
Zum Original