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Rippenstöße, Beschimpfungen und Senf in den Haaren

Es ist 12.30 Uhr und die erste Runde des Wettbewerbs ist gerade vorbei. Die Metzger schnaufen hinter ihren Ständen der Domäne Dahlem durch und einige der Besucher wischen sich den Senf aus den Mundwinkeln. Fleischer aus sieben Betrieben der Berliner Fleischer-Innung zeigen heute ihr bestes Stück. Der Gewinner wird demokratisch mit Stimmzettel vom Publikum gewählt.

Während Bratwürste für gewöhnlich aus nicht viel mehr als Brät und Darm bestehen, wird heute auf Reinheitsgebote aller Art verzichtet. So kommt es beispielsweise, dass mein Spätfrühstück aus einer Cognac-Steinpilz-Bratwurst besteht. Es sind 13 Würste, und auf das Brot verzichte ich aus Effizienzgründen. Auf Senf auch, es geht schließlich um die Wurst.


Sonntag ist Spartag!

Ich bin Schwabe und spare somit gern. Wenn es auf Veranstaltungen etwas umsonst gibt, schlemme ich mich genüsslich durch Stehtisch-Schälchen und Schaschlik-Spieße. Für gewöhnlich bedauere ich es, keinen Tupper dabei zu haben. Allerdings reicht mein Abstraktionsvermögen dahingehend aus, dass ich mir vorstellen kann, dass auf einem Essensfest noch andere Menschen teilnehmen werden, gerade wenn Facebook knappe 2.000 Interessenten verzeichnet. Die Fleischer wissen dann, dass einige Besucher vor Ort sein werden, die Besucher können erahnen, es wird eng. Eltern wissen, dass ein Kind mit Bratwursthunger keine 40 Minuten auf eine Entenbratwurst „Tokiostyle" warten will und auch ein Kind könnte verstehen, dass keine Würste in den Mund geflogen kommen, selbst wenn man lange genug schreit.

Statt 2,50 Euro zu bezahlen und sich in gemütlicher Pose satt zu essen, nimmt man schon einmal einige Rippenstöße, Beschimpfungen, Senf in den Haaren und einen baldigen Dursttot in Kauf.

Zugegeben, auch ich fände das attraktiv, unterdrücke das Geschrei dennoch. Stattdessen wirft mir ein zehnjähriger Junge seine in Ketchup getunkte Wurst auf den Schuh. „Mann, Ole", zischt ihn die Mutter an und überlegt, ob eine dreckige Wurst es Wert sein könnte, auf ein erneutes Anstehen zu verzichten. Der Vater eilt mit drei in Wurstscheiben gepieksten Zahnstochern zu Hilfe. „Orientalisch!" strahlt er, aber der Junge mag kein Koriander und kriegt keine Luft mehr vor Geschrei.

In zehn Minuten beginnt die nächste halbe Stunde Wettbewerb und die Menschen hören auf, sich ganze Würste für Geld zu kaufen. Wäre ja auch schön blöd, wo doch in zehn Minuten einzelne Scheiben für umme verteilt werden. Statt 2,50 Euro zu bezahlen und sich in gemütlicher Pose satt zu essen, nimmt man schon einmal einige Rippenstöße, Beschimpfungen, Senf in den Haaren und einen baldigen Dursttot in Kauf. Sonntag ist Spartag!


Noch jemand Bratwurst Frutti di Mare?

Die Getränkeschlange ist nicht nur so lang, als hätte die Ewigkeit Menschengestalt angenommen, sie ist auch nicht in Reichweite. Klar, kannst Du Dein Leben selbst bestimmen - mit Ausnahme der Berliner Bratwurstmeisterschaft. Da läufst Du nämlich dahin, wo die Masse hinläuft. Die bildet Trauben um kostenlose Dinge, Kinder werden an ihren Kapuzen durch Erwachsenenbeine gezerrt und Paare beginnen zu streiten. „Du hast Dir nicht gerade das letzte Stück von der Bärlauchbratwurst reingeschoben, oder? Wie kann man nur so sein?" Das sind die existenziellen Fragen, aufgerollt an einer Bärlauchwurst. Und es kommt noch schlimmer.

Fleischerei Bachhuber kommt mit den Wurstspießen nicht nach und daher ins Schwitzen. Die Menschen ärgern sich und gehen nicht weiter, was andere Menschen denken lässt, hier sei es ganz besonders lecker. Eine ältere Frau im cremefarbenen Zweiteiler beginnt ihren Stimmzettel zu zerknüllen und wirft ihn auf den Grill. Ein junger Mann mit Bart und Stoffbeutel hat die Situation ebenfalls durchschaut: „Amateure", sagt er, kauft sich im Anschluss vermutlich eine „BEEF!", um dann zum Entschluss zu kommen, besser selbst Wurst zu machen.

Du hast Dir nicht gerade das letzte Stück von der Bärlauchbratwurst reingeschoben, oder?

Ähnlich dem Versuch, einem Strömungskanal zu entkommen, kraule ich gen Ausgang, denn Wurst ist salzig und mein Hals so trocken wie der Humor von Heinz Strunk. In der letzten Kurve schaffe ich es, mich in einen Pulk von Mädchen zu schmuggeln, deren ausgestreckte Arme wie die Vogelschnäbel eines frischen Nests gen Ernährer zwitschern. „Noch jemand Bratwurst Frutti di Mare?", fragt sie und bringt den Fleischer um sein komplettes Tablett. Bratwurst aus Shrimps, Muscheln und Tintenfisch, dazu eine Remoulade aus Dill, Kerbel und Senf. Ich freue mich diebisch an dem Gedanken, meine Portion einem hungrigen Kind anzudrehen, bekomme in diesem Moment aber einen Pfennigabsatz in den Fuß gerammt und verwerfe den Meereswurst-Witz kurzfristig.


Wurstlos unglücklich

Um mich bei meinem Nervenkostüm zu entschuldigen, mache ich einen Spaziergang hinter der Dahlemer Domäne und streichle Ponys. Hier ist es schön still. Um zur U-Bahn zu kommen, muss ich jedoch noch einmal über den Festplatz. Eine Frau hat einen Mann mit einem Blumenstrauß verprügelt, der hat jetzt rosa farbige Tulpen hinterm Ohr. Der Fleischerstand Kluge verkauft rohe Bratwürste für Zuhause und macht den Umsatz seines Lebens. Oles Eltern sitzen mittlerweile schweigend beim Bier und Ole schmollt - wurstlos unglücklich.

Mein Favorit an diesem Bratwurstsonntag ist die Merguez der Fleischerei Genz in der Hranitzkystraße; gewonnen hat allerdings die Tamarillo-Wurst, zumindest den Kreativitätspreis. Den traditionellen Preis hat die Fränkische Bratwurst gewonnen. Verloren haben alle aber irgendwie auch, nämlich einen Sonntag, an dem man auch etwas Schönes hätte machen können. Etwas ohne Schläge, Tränen und blutige Füße. Vielleicht kostet das dann etwas, vielleicht aber auch einfach nur der Glaube, dass es die Welt nicht im Geringsten kümmert, ob und wann Du Deinen Bratwurstburger bekommst und ob dein Kind die grüne Paprika aus der „Tamarillo-Bratwurst" nicht mag. Es gibt auf dieser Welt mindestens so viele Bratwürste wie Menschen. Also, keep calm und verhalte Dich nicht selbst wie eine.

Verloren haben alle aber irgendwie auch, nämlich einen Sonntag, an dem man auch etwas Schönes hätte machen können. Etwas ohne Schläge, Tränen und blutige Füße.
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