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Alkohol - Im Rausch vereint

Laut einer Studie trinken Frauen mittlerweile genauso viel wie Männer. Dass diese Feststellung als schockierend gilt, ist das eigentlich Schockierende daran.


Lust auf 'nen Kurzen?" fragt ein pinkfarbenes Plakat am Berliner S-Bahnhof Neukölln. Die genauso pinkfarbene Flasche darauf ist nur schwerlich in einer Männerrunde vorstellbar. Nein, das zielt eindeutig auf eine feiernde Damenclique. So ein Bild einer metergroßen Schnapsflasche für den Mädelsabend ist noch nicht lange salonfähig. Früher hätte man eher an Gurkenmasken, Maniküre und Piccolo gedacht, wenn Frauen den Abend zusammen verbringen, und die Schnapsflasche den Herren überlassen, aber die Zeiten haben sich geändert. Und die Getränke auch.

Laut einer australischen Studie, die kürzlich veröffentlicht wurde, trinken Frauen inzwischen genauso viel Alkohol wie Männer. Das ist nicht nur erstaunlich, weil Frauen eine kleinere Leber haben und deshalb schlichtweg weniger Alkohol vertragen, sondern auch, weil es mit alten Rollenklischees bricht. Seit diesem Ergebnis der Studie kursiert die Frage, ob es sich dabei um erfolgreiche Emanzipation handelt oder doch eher um eine pathologische Anwandlung der ganzen Gesellschaft? Die Autorin Kristi Coulter hatte in einem Essay für Zeit online neulich über "Die betrunkene Frau" geschrieben - über eine Frau, die in einem Strudel von gesellschaftlichen Ansprüchen und vergeblicher Ambition letztlich aufgibt, aber eben nicht sang- und klanglos, sondern mit einem Drink in der Hand. Dafür erntete die Autorin ebenso Zuspruch wie Kritik, das Echo auf diese neue Bargängerin bewegte sich zwischen dem Sinnieren über Alkohol, "der Nebelmaschine des Kapitalismus" und dem Vorwurf von "weinerlichem Selbstmitleid". Aber wie sieht es in den Bars heute wirklich aus?

Timo Jansen ist Chef der Amsterdamer Bar "Door 74". In den vergangenen zehn Jahren hat er einen deutlichen Wandel bei den weiblichen Gästen erlebt. "Der größte Unterschied ist, dass der trinkenden Frau nichts Unwürdiges mehr anhaftet. In manchen Kulturen ist das ja bis heute verpönt, zum Beispiel in Russland. Als Frau ist es bei uns aber heute völlig normal, allein vor einem Glas Wein zu sitzen." Er schätzt es, wenn Frauen Ahnung von Drinks und Spirituosen haben und selbstbewusst damit umgehen. Betrunkene Frauen und Männer allerdings findet er gleichermaßen unangenehm - und beides erlebt er inzwischen ähnlich oft. Als mögliche Gründe für den gestiegenen Alkoholkonsum von Frauen vermutet er das spätere Kinderkriegen sowie eine stressige Berufswelt, die der männlichen immer ähnlicher wird. Jansen beobachtet auch einen Zusammenhang zwischen Frauen, die mehr trinken, und der Renaissance von Cocktails - eine Bereicherung der Barszene. Damit löst sich auch die Trennung zwischen tendenziell männlichen und weiblichen Drinks zusehends auf.

Konrad Friedemann aus der Bijou Bar in Berlin kann das bestätigen. Die Zeiten, in denen eine Frauenrunde typischerweise mit Prosecco anstieß, sind vorbei. Natürlich seien Klischees bei Empfehlungen früher bisweilen ganz hilfreich gewesen, "aber dieser neuen Herausforderung stelle ich mich gern", sagt Friedemann. Schließlich ermöglicht die neue Gleichberechtigung in der Bar und der Trend zum Unisex-Drink auch den Männern eine neue Bestellfreiheit, die ihre Männlichkeit nicht mehr mit einem kräftigen Drink betonen müssen - das Glas, in dem eine mazerierte Kirsche schwimmt, wird eben nicht mehr zwingend vor eine Frau gestellt.

Friedemann ist 34 Jahre alt und beobachtet, dass seine Altersgruppe ausgewogen feiert; bei jüngeren Frauen stellt er hingegen ein exzessiveres Trink- und Ausgehverhalten fest: "Scheint, als gäbe es da etwas aufzuholen." Kein Wunder also, dass der pinkfarbene Drink mit dem fragwürdigen Spruch "Wir feiern nicht, wir eskalieren!" um diese Zielgruppe wirbt. Das erinnert an eine Nachricht, die vom Statistischen Bundesamt im Herbst veröffentlicht wurde und laut der Jahr für Jahr mehr Frauen an Lungenkrebs sterben, weil immer mehr von ihnen rauchen.

"In meiner Erfahrung trinken Frauen und Männer heute gleich viel, hauptsächlich aus dem Grund, dass insgesamt besser getrunken wird", sagt Katrin Reitz, die nicht nur lange eine Bar führte, sondern als Brandmanagerin für einen Hamburger Spirituosen-Importeur auch beruflich Trinktrends beobachtet. Durch die florierende Cocktail-Kultur und das gestiegene Interesse an Drinks entdecken auch immer mehr Frauen (maßvolles) Trinken als Hobby, bei dem es um Genuss und das Auskundschaften neuer Aromen geht. "Heute greift die Frau zum Single Malt, eben weil sie Whisky mit all seinen Facetten geschmacklich zu schätzen weiß", glaubt sie.

Obgleich Statistiken immer noch belegen, dass weniger Frauen beim Feiern auf Hochprozentiges zurückgreifen als Männer, frequentiert eine Bevölkerungsgruppe den Berliner Spirituosenhandel "Whisky & Cigars" heute deutlich häufiger als noch vor ein paar Jahren, stellt Geschäftsführer Eugen Kasparek fest. Früher hätten die Ehefrauen im Geschäft meist nur dabeigestanden oder mal etwas für den Mann zum Geburtstag gesucht. Mittlerweile kommen so viele Damen, die für den eigenen Nachschub sorgen, dass die jüngst veranstaltete Verkostung das Motto "Frauen und Whisky" trug. Sie war ausgebucht. Die Einladung zeigt eine Dame in der Badewanne, das Glas Whisky in der einen Hand und die Zigarette in der anderen. Botschaft: Die Frau von heute sorgt selbst für ihr Vergnügen. In der Verkostung geht es keinesfalls nur um süßliche, mild-fruchtige Spirituosen, denen man gerne unterstellt "Frauen-Whiskys" zu sein. Nach der Erfahrung des Händlers mögen viele Frauen gerade torfig-rauchigen, vor allem aus Islay stammenden Whisky.


Haben denn Männer jemals einen staatstragenden Grund zum Trinken gebraucht?

Der Trend ist nicht auf Deutschland beschränkt. Auch Tito Carona, Barchef des "A Tabacaria" im Herzen Lissabons kann eine gehäufte Sichtung der neuen Spezies "trinkende Frau" bestätigen. "Zu Beginn meiner Zeit hier war es sehr selten, dass Frauen einfach Whisky oder Rum bestellen. Das ist aber völlig normal geworden." Dabei sehe er Frauen aber nicht nur ausgewählte Destillate oder einen Cocktail trinken: "Es wird von wirklich allem mehr getrunken."

Seit es weniger verpönt ist, dass Frauen in der Öffentlichkeit trinken, hat eben auch ihre Zurückhaltung nachgelassen. Aber sind die Resignation gegenüber Alltagswirklichkeiten oder die Rebellion gegen althergebrachte Weiblichkeitsbilder wirklich die Gründe für den Anstieg der Frauenquote am Tresen? Klingt natürlich intellektuell wertvoll, aber ganz ehrlich: Haben Männer zum Trinken jemals derart staatstragende Gründe gebraucht? Vielleicht schmeckt es Frauen auch einfach nur genauso gut wie Männern. Es gibt jedenfalls keinen plausiblen Grund, weshalb dem nicht so sein sollte.

Frauen wurde seit jeher und fast bis in die Gegenwart vermittelt, dass sie ihre Grenzen nicht überschreiten, sie sich zurückhalten und mehr achtgeben müssen als Männer. Doch so wie Verantwortung für alle geboten ist, sollte heute auch das Recht auf Rausch gerecht verteilt werden. Ist die Emanzipation am Longdrinkglas erreicht, könnte man sich an der Bar den wirklich wichtigen Fragen widmen: eben jenen Alltags- und Generalsorgen, die einen dort stranden lassen, egal, ob man eine Frau oder ein Mann ist. Statt prinzipiell zu beargwöhnen, dass Frauen heute so viel trinken, sollte nur die Frage "Hast du nicht schon genug?" fairerweise auch auf sie ausgedehnt werden. Oder fühlt sich der männliche Stammtrinker von der neuen, trinkenden Frau bedroht? Von einer, die selbstbewusst alleine ihre Drinks ordert - und auch bezahlt? Dann erst recht: Prost!

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