„Viel Spaß bei den Leichen!", rufen mir die Kollegen noch hinterher, als ich mittags die Redaktion verlasse, um mich auf den Weg zum Schwabinger Krankenhaus zu machen. Pathologie: das klingt nach Formalingeruch, Kühlkammern und Tatort-Folgen, nach Körperflüssigkeiten und Horrorkabinett. Einladend? Wohl kaum. Der Job des Pathologen genießt vermutlich einen ebenso schlechten Ruf. Wer will schon tote Menschen auf dem Seziertisch liegen haben, Tag für Tag?
Alfred Riepertinger will, und das schon seit 40 Jahren. Der Oberpräparator* des Schwabinger Krankenhauses empfängt mich auch nicht im kaltweißen Sektionssaal, sondern in seinem geradezu überwältigend begrünten Büro. Zwischen Kakteen, Schwarzweißfotos seiner Vorgänger und einem kleinen Zoo an Alligatorennachbildungen („Präparator, Alligator - das ist so ein alter Witz") reden wir über den Tod. Das tun die Menschen nämlich sowieso viel zu selten, meint Riepertinger. Und räumt gleich mal das erste Vorurteil aus der Welt: mit Leichen hat der Beruf des Pathologen nämlich nicht mehr allzu viel zu tun.
Denn: seit Jahren sinkt die Zahl der Sektionen. Eine Entwicklung, die Riepertinger Sorge bereitet: „Die klinische Sektion ist eine Qualitätskontrolle. Wir bieten dem Arzt, der die Todesursache festgestellt hat, die Möglichkeit, seine Diagnose zu überprüfen. Warum nehmen die Kollegen diese Option nicht mehr wahr? Und warum klären sie die Angehörigen der Verstorbenen nicht über den Ablauf einer Sektion auf?“
Der Tod wird totgeschwiegen
Wer zu Lebzeiten nicht verfügt hat, dass er nach seinem Tod obduziert werden möchte, überträgt (zumindest im Süden Deutschlands, Obduktionsrecht ist Ländersache) seinen Hinterbliebenen die Verantwortung für diese Entscheidung – und die sind viel zu oft viel zu überfordert damit. „Die Leute beschäftigen sich mit dem Tod erst, wenn im familiären Umfeld jemand stirbt. Und dann sind sie alle völlig ratlos und wissen überhaupt nicht, was zu tun ist. Genau das ist das Problem. Die Menschheit probt den Ernstfall für alles mögliche – nur nicht für den Tod. Da wartet man lieber, bis der Karren an die Wand gefahren ist und wundert sich dann, wenn alles schief läuft.“
Eine sehr deutsche Mentalität: in vielen anderen Kulturen ist der Tod schließlich ein großer, wichtiger Teil des Lebens. In Mexiko feiert man jedes Jahr den Día de los Muertos, den „Tag der Toten“, in Kuba bettet man die Knochen der Verstorbenen nach drei Jahren feierlich um. „Hier höre ich dagegen oft, dass Kinder nicht mit zur Beerdigung der Oma oder des Opas mitkommen sollen. Schwachsinn! Je früher man anfängt, den Tod als etwas Natürliches anzusehen, desto besser“, sagt Riepertinger. Und fügt hinzu: „Jeder von euch wird mal Leiche sein.“
95 Prozent lebende Patienten
Es ist erstaunlich, wie weit Realität und Imagination auseinanderklaffen, sobald der Begriff Pathologie fällt. Fast jeder meint, dass ein Pathologe nur an Toten herumdoktert. Das stimmt nicht mal ansatzweise: „Wenn Sie im OP sind und Ihnen was raus geschnitten wird, kommt das auch in die Pathologie und wird untersucht. Wir arbeiten zu 95 Prozent mit Biopsien, also mit Material von Lebenden.“ Auch die Begriffe Rechtsmedizin und Pathologie werden fast immer wild durcheinandergemischt – vermutlich dank Krimiserien wie Tatort und Co. „Im Krimi hat der Pathologe nichts zu suchen. Wir kommen nur ins Spiel, wenn es um natürliche Tode geht. Sobald das nicht der Fall ist, übernimmt der Rechtsmediziner die Sache.“
Zum Institut gehört auch ein Verabschiedungsraum. Ein warmer, mit hellbraunem Holz ausgekleideter Raum, an der Wand ein Kreuz, gleich daneben eine Menora. Auf einem gerahmten Bild ein Spruch aus dem Koran in Arabisch, Deutsch, Türkisch, Englisch und Französisch: Jede Seele wird den Tod kosten; zu uns werdet ihr dann zurückgebracht. Die Schwabinger Pathologie ist die einzige Münchner Anlaufstelle für Menschen unterschiedlichsten Glaubens – ob Muslim, Jude oder Christ, hier wird jeder nach den Vorgaben seiner Religion auf die Bestattung vorbereitet.
In den Kellerräumen der Klinik wartet dann ein wahrer Schatz auf den unvorbereiteten Besucher: eine Sammlung, die 1149 Feuchtpräparate, Wachsmoulagen und historisches medizinisches Werkzeug umfasst. Dieser Teil der Klinik kommt einem Horrorkabinett wohl am nächsten. Besonders die Nachbildungen diverser Haut- und Geschlechtskrankheiten bleiben im Gedächtnis. Schon mal Gangrän gesehen? Oder eine Raucherlunge in ihrer vollen Pracht? Für schwache Mägen ist das Ganze nichts, wer morbid veranlagt ist, findet aber ein wahres Schlaraffenland vor. Ich kenne die Sammlung schon, laufe aber auch beim zweiten Mal vollkommen fasziniert an den großzügig bestückten Schaukästen vorbei. Menschliche Oberflächlichkeit in ihrer ganzen Hybris verstehe ich danach noch weniger. Dein Aussehen ist dir furchtbar wichtig? Diggi, hast du schon mal nachgeguckt, wie du von innen aussiehst?
Trotz oder vermutlich gerade wegen der falschen Vorstellungen über diesen Beruf ist das öffentliche Interesse an der Pathologie riesig. Das Institut bietet deshalb mehrmals im Jahr öffentliche Führungen an, Riepertinger selbst hat ein Buch über seinen Beruf geschrieben, das den Titel Mein Leben mit den Toten trägt. Er fände es eigentlich ganz schön, sagt er, dass sich die Leute so sehr für dieses Gebiet interessieren würden. „Wenn ich dadurch Halbwissen aus der Welt räumen kann – umso besser.“
Könnte ich diesen Beruf ausüben?
Wie viele Spuren die Arbeit mit den Toten hinterlassen hat, lässt sich bei Riepertinger schwer sagen. Er ist ein abgeklärter Typ. Muss er ja sein. Als Oberpräparator gehört es unter anderem zu seinen Aufgaben, Leichname wieder herzurichten, die durch Gewalteinwirkung entstellt wurden, damit sich die Angehörigen anständig verabschieden können. Überbordende Emotionalität ist da sicherlich keine Hilfe.
Während wir durch die Gänge des Instituts streifen, das in vielen Ecken eher an ein Museum als an einen Teil des Klinikums erinnert, frage ich mich, ob ich das alles tun könnte. Tote sehen, berühren, versorgen, Tag für Tag. Ich bin keines dieser Behutsamkeitsopfer, von denen er gesprochen hat, ich wurde schon oft genug mit dem Tod konfrontiert. Und trotzdem: einen Körper, in dem mal etwas wohnte, vielleicht eine Seele, vielleicht etwas anderes, einen solchen Körper also vor sich zu haben und dabei zu vergessen, dass dieser Körper mal ein Mensch war, das stelle ich mir sehr schwierig vor.
Als ich mir vor der Tür meine Zigarette anstecken will, habe ich unweigerlich wieder die Nachbildung der Raucherlunge vor Augen, die ich zuvor in der Sammlung gesehen habe. Ich stecke die Kippe wieder weg. Fürs Erste zumindest.
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