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Strandquarantäne in Kolumbien: Oh, Palomino

Strand in Palomino, Kolumbien. ©Viviana Duque

In einer Strandhütte an der kolumbianischen Karibikküste lässt sich die Quarantäne gut aushalten - allerdings hat so ein Aufenthalt auch etwas Surreales. Bericht eines Gestrandeten.

An manchen Tagen fühle ich mich wie ein Eindringling. Als ich heute Morgen ins Freie trat, rannte ein tellergroßer Käfer vor mir weg, und ein Frosch sprang erschrocken zur Seite. Und später am Nachmittag, beim täglichen Strandspaziergang, schlugen die Wellen höher als sonst und schäumten bis an die naheliegenden Hütten und Häuser heran. Auch ich wohne momentan in so einer Hütte am Strand – und habe Sand zwischen den Zehen. Ich bin gestrandet. Im kleinen kolumbianischen Dorf Palomino, das man bedenkenlos als Urlaubsparadies bezeichnen kann. Jetzt sowieso. Die meisten Touristen sind abgereist.

Zusammen mit meiner kolumbianischen Freundin war ich auf einer Rundreise an der karibischen Nordküste, als das Coronavirus auch Südamerika erreichte. Die kolumbianische Regierung verordnete eine Ausgangssperre. Also brachen wir unsere Reise ab und zogen in die nächstbeste freie Hütte ein, weil wir nicht das Risiko einer Rückreise in die Hauptstadt in Kauf nehmen wollten. Da die sogenannte bundesweite Quarantäne immer wieder verlängert wird, sind wir jetzt bereits fast einen Monat hier.

 "Palomino ist ein magischer Ort", sagt unsere Gastgeberin Martha und spricht von der einzigartigen Lage zwischen zwei Flüssen, dem höchsten Küstengebirge der Welt und dem Karibischen Meer. "Ein kleines Paradies unterschiedlicher Ökosysteme." Sie hat hier vor 15 Jahren günstig Land gekauft, als sich Kolumbien noch im Bürgerkrieg befand und die Paramilitärs das Gebiet kontrollierten. Heute ist alles friedlich, der Quadratmeter ist das Zehnfache wert. Das Klima ist tropisch, die Temperatur liegt bei 30 Grad. Auch der Tourismus ist mittlerweile ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Martha vermietet kleine Cabañas, also Hütten wie sie die indigenen Völker bauen, die in den umliegenden Nationalparks leben. Wie viele Menschen in dieser Region, teilt auch Martha deren Spiritualität und Naturverbundenheit: "Sie haben ein uraltes Wissen und leben in Harmonie mit Mutter Erde", erklärt sie. Das Anwesen, auf dem Martha auch selbst wohnt, gleicht einer grünalternativen Gemeinschaft: Der Strom kommt aus Solarkraft, der Abfall wird wiederverwertbar recycelt, und Kräuter, Gemüse und Früchte werden im eigenen Garten angebaut. Alle helfen mit. Momentan ist nur die Hälfte der Hütten belegt. Martha, ihr Mann und ihr Sohn sowie zwei Amerikaner, denen es ähnlich geht wie uns, sind unsere Quarantäne-Familie. Abends schickt Martha eine Voicemail: "Bitte gießt euer Bad." Komische Sätze, die zum Alltag werden. Auch dieser: "Zuletzt hat es kaum geregnet, obwohl eigentlich Regenzeit ist." Unsere Hütte, aus Bambus und Lehm gebaut und mit Palmenblättern bedeckt, ist teilweise offen. Das Bad liegt sogar im Freien, wie ein kleiner Vorgarten. Es ist bereits stockdunkel – wir sind ja in Äquatornähe –, als ich um sieben Uhr unter leuchtendem Sternenhimmel in der Dusche stehe und mit einem Eimer die Pflanzen neben der Komposttoilette gieße. Das Verhältnis zur Natur ändert sich in so einer Umgebung fast zwangsläufig. Als Stadtkind und Warmduscher bin ich jahrelang schreiend vor Spinnen weggelaufen. Jetzt liege ich ruhig im Bett, während Kakerlaken über den Nachttisch rennen und Fledermäuse im Dachstuhl rascheln. Man gewöhnt sich schnell an solche Sachen.

Vom Rucksacktouristen bis zum umweltbewussten Wellness-Urlauber reicht das Klientel in Palominonormalerweise. Hippies, Veganer und Sinnsuchende an einem Ort. Übernachtungsmöglichkeiten kosten zwischen 40 000 und 400 000 Pesos, also zehn Euro (in der Hängematte) bis 100 Euro (in der Eco-Suite). "Wir leben ökofreundlich und haben hier sofort etwas ganz Spezielles gefühlt", sagt Owen, der mit seinem Bruder Ian und kulinarischen Geschäftsplänen aus den USA nach Palomino gekommen ist und ebenfalls in der Gemeinschaft hier wohnt. "Hier herrscht ein ganz besonderer Vibe: Dein Kopf wird frei, du verbindest dich mit der Erde und merkst, was wirklich wichtig ist im Leben." Das sei aber schon vor der Quarantäne so gewesen.   

"Die meisten Touristen kommen aus Europa", klärt Martha auf. Viele US-Amerikaner würden sich in Kolumbien immer noch nicht sicher fühlen, aber es werden mehr. Auch die großen Hotelketten oder Strandkomplexe gibt es noch nicht. Dafür kann man überall ökologische Seife, Hanföl (legal) oder Marihuana (nicht legal) kaufen. Nach der Yogastunde geht es zur Reikitherapie und dann an den Strand tanzen mit Margaritas. 

Derzeit natürlich nicht. Jeder muss für sich meditieren (oder feiern). Das Coronavirus hat auch hier das öffentliche Leben zum Erliegen gebracht, obwohl es in der Region um Palomino erst zwei offizielle Infizierte gibt. "Alles total ausgestorben", sagt Marthas Sohn Samuel, der eigentlich in Bogotá Musik studiert, die Quarantäne aber mit seiner Familie verbringt. 

Palomino ist ein seltsamer Zwitter: Das ehemalige Fischerdorf ist zwar heute wirtschaftlich größtenteils vom Tourismus abhängig, trotzdem hat es sich eine gewisse Provinzialität bewahrt. Einen Bankomat sucht man hier lange, über die verlässlich wiederkehrenden Stromausfälle sollte man sich nicht wundern. Auch im sozialen Bereich geht die Schere auseinander: Im Dorf ist das Trinkwasser knapp, und einigen Menschen fehlen die (Über-)Lebensmittel. Insofern hat der Lockdown und das Ausbleiben der Touristen schwerwiegende Folgen. Dennoch steht Prävention in Kolumbien an erster Stelle. Die Quarantäne wird mindestens noch bis Mitte Mai andauern. Denn ein flächendeckender Ausbruch des Virus könnte noch wesentlich schwerwiegendere Folgen haben. Das kolumbianische Gesundheitssystem hat die erwartbaren Schwächen, noch dazu sind viele Menschen nicht krankenversichert. 

Der Großteil der Dorfbewohner hält sich an die Vorgaben, trägt Mundschutz und geht nur für das Nötigste raus. Auch wir kaufen nur einmal pro Woche ein oder lassen uns die Einkäufe von den Mototaxis bringen, die sonst flächendeckend den Staub auf den Sandstraßen aufwirbeln. In den kleinen Läden wird die Rechnung noch im Kopf zusammengezählt. Eine Staude Bananen kostet 25 Cent. Klopapier? Das ist hier kein Thema. Wenn man den Leuten von Hamsterkäufen in Deutschland erzählt, schauen sie einen verständnislos an. Die Grundversorgung ist gewährleistet. Wenn es mal keine Eier gibt, dann weil die Hühner eben keine gelegt haben. Die Menschen sind gelassen und demütig. "Das ist die Karibik", sagt ein Ladenbesitzer. "Das ist das Dorfleben", sagt meine Freundin.

Sie kommt aus Bogotá und telefoniert regelmäßig mit ihrer Familie. In der Acht-Millionen-Metropole ist die Situation anders. Rund die Hälfte der fast 4400 Covid-19-Fälle in Kolumbien werden in der Hauptstadt verzeichnet, insgesamt 206 Tote – aber wer kennt schon die genauen Zahlen? Bogotá ist momentan abgeriegelt: Keiner kommt raus, keiner rein. Wer wann überhaupt aus dem Haus darf, darüber entscheidet einerseits das Geschlecht (an einem Tag die Männer, am anderen die Frauen) oder die letzte Ziffer der Ausweisnummer (eins/zwei am Montag, drei/vier am Dienstag und so weiter). Wer sich nicht daran hält, riskiert eine Geldstrafe von gut 300 Euro, was teilweise das Monatseinkommen einer Familie übersteigt. 

Während die Eltern meiner Freundin also zusammen mit zwei ihrer jüngeren Geschwister auf rund 50 Quadratmetern wohnen und kaum an die frische Luft gehen können, leben wir in einer grünen Oase, mit Palmen, Mangos, Pelikanen und Kolibris und können nachts beim Baden das Meeresleuchten beobachten.

So wunderschön die Strandidylle ist: Inmitten der weltweiten Pandemie hat sie natürlich auch etwas Surreales. Gerade ist ein Pferd durch den Garten gerannt. Gefühlt bin ich ewig weit weg von Covid-19, die Nachrichten verfolge ich auch nur sporadisch. Wahrscheinlich macht diese Umgebung automatisch eskapistisch. Oder sie lenkt den Blick – gerade umgekehrt – auf die Dinge, die mehr Aufmerksamkeit in unserem Leben bekommen sollten: auf den Flug der Vögel, den Sturz der Wellen, den Lauf der Riesenkäfer.


Julian Ignatowitsch erkundete gerade mit seiner kolumbianischen Freundin das Land, als die Ausgangssperre in Kraft trat. Sie beschlossen, nicht nach Bogotá zurückzukehren, sondern sich eine Hütte im Touristendorf Palomino zu mieten. Dort warten sie jetzt seit einem Monat ab. 

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