Nach mehr als einem Jahr ist Mesale Tolus Albtraum vorbei. Erst die Anklage wegen vermeintlicher Terrorpropaganda, dann monatelange Untersuchungshaft in der Türkei, schließlich die Ausreisesperre - und am Montag dann die überraschende Kehrtwende: Nun darf die deutsche Journalistin doch wieder nach Deutschland reisen, obwohl ein Gericht in Istanbul erst Ende April eine Aufhebung des Ausreiseverbots abgelehnt hat. Schon am Sonntag wird Tolu in Neu-Ulm erwartet.
Ihr Fall hat, zusammen mit dem des ein Jahr lang inhaftierten „Welt"-Reporters Deniz Yücel und des Menschenrechtlers Peter Steudtner, die Beziehungen zur Türkei schwer belastet. Ist Tolus Ausreisegenehmigung nun ein Signal, dass die Türkei sich ernsthaft mit Deutschland aussöhnen möchte? Der Leiter des Instituts für Internationale und Interkulturelle Studien an der Universität Bremen, Roy Karadag, ist im Gespräch mit FAZ.NET skeptisch. Die Entscheidung, Mesale Tolu nun doch ausreisen zu lassen, folge in erster Linie politischem Kalkül, sagt der Politik- und Islamwissenschaftler. Auch wenn der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan fortwährend das Gegenteil behaupte, sei die türkische Justiz von den Anweisungen der Politik abhängig. „Die Anweisung, Tolu gehen zu lassen, kam ganz klar von Erdogan. Sie kommt ihm gerade gelegen, denn er will nach dem Konflikt mit Trump Schadensbegrenzung betreiben."
Der Streit mit den Vereinigten Staaten um den inhaftierten amerikanischen Pastor Andrew Brunson habe den türkischen Präsidenten in eine schwierige Lage manövriert, sagt Karadag. Seine Strategie, mit politischen Gefangenen von deren Herkunftsländern Zugeständnisse zu erpressen, stößt beim amerikanischen Präsidenten an ihre Grenzen. Trump lässt sich nicht unter Druck setzen. Im Gegenteil: Er reagiert mit Sanktionen auf Erdogans Erpressungsversuche. Die amerikanische Regierung verdoppelte als Reaktion auf Brunsons Festnahme die Zölle auf Aluminium und Stahl-Exporte aus der Türkei. Die Sanktionen befeuerten die Inflation der türkischen Währung Lira weiter, und stürzten das Land am Bosporus in eine schwere Wirtschaftskrise. Karadag sagt: „Jetzt realisiert Erdogan, dass er in diesem Konflikt auf Partner angewiesen ist - und vielleicht bald deren Hilfe braucht." Denn der türkische Präsident will den Pastor nach wie vor nicht gehen lassen. Karadag ist überzeugt: „Erdogan möchte nicht vor den Vereinigten Staaten einknicken und vor Trump Schwäche zeigen."
Erdogan braucht die westlichen PartnerUm seinen Kurs der Härte gegenüber Trump aufrechtzuerhalten und die negativen wirtschaftlichen Folgen abzumildern, wende er sich nun gleichzeitig wieder den Europäern zu, sagt Karadag, insbesondere Deutschland. In der Hoffnung, notfalls wirtschaftliche Hilfen und Kredite aus Europa zu erhalten; Deutschland ist ein wichtiger Handelspartner der Türkei.
Also sendet Erdogan eine Reihe von Entspannungssignalen in Richtung Deutschland und der EU: Plötzlich darf Tolu ausreisen. Plötzlich kommt mit Taner Kilic ein türkischer Repräsentant der in London beheimateten Menschenrechtsorganisation Amnesty International frei. Plötzlich dürfen zwei griechische Soldaten aus dem Gefängnis, deren Inhaftierung das Verhältnis zwischen Griechenland und der Türkei ähnlich belastet hatte wie die Fälle Yücel, Steudtner und Tolu die deutsch-türkische Beziehung.
Vergangene Woche bedankte sich der Finanzminister und Schwiegersohn des Präsidenten, Berat Albayrak, für die „Äußerungen des gesunden Menschenverstandes" aus Deutschland und lobte die guten wirtschaftlichen Beziehungen. Angela Merkel hatte zuvor gesagt, dass die wirtschaftliche Stabilität der Türkei für Europa wichtig sei. Die Lobeshymnen und Freilassungen seien vor allem Symbolpolitik, um die westlichen Partner milde zu stimmen, glaubt Politologe Karadag. Erdogan sei Opportunist. „Seine Haltung kann sich schnell wieder ändern - je nachdem, ob es ihm nützt." Eine Abkehr von seiner grundsätzlichen innenpolitischen Linie bedeute Erdogans Entspannungspolitik ebenfalls nicht: An der Menschenrechtslage und dem rigorosen Vorgehen gegen Oppositionelle und kritische Journalisten werde sich nichts ändern.