Große Geschichten brauchen große Bilder? Stimmt nicht. Fiktionale Podcast-Serien sind die Wiedergeburt des Hörspiels im Geiste der HBO-Serie.
Alles beginnt mit einem Omelett. Eine Raststätte, irgendwo in den USA. Am Tresen eines Diners sitzt ein Mann und isst. Gelbe Fingernägel, scharfe Zähne, ein schmutziges Poloshirt mit dem Schriftzug "Thistle" auf der Brust. Etwas Unmenschliches liegt in seinem Gesicht, in seinen Bewegungen, in der Art und Weise, wie er sein Omelett verschlingt.
So beschreibt es die namenlose Erzählerin des Podcasts Alice Isn't Dead. Und so beginnt ihre Geschichte. Eine Geschichte, die schon nach wenigen Minuten eine Sogkraft entfaltet, wie sie sonst nur die spannendsten TV-Serien entwickeln können. Was hat es mit dieser unheimlichen Gestalt auf sich? Und was mit der titelgebenden Figur Alice, der verschollenen Ehefrau der Erzählerin?
Diese Fragen verhandelt der Podcast Alice Isn't Dead in seiner ersten Staffel. Richtig gelesen: Staffel. Denn Alice Isn't Dead ist eine Hörspielserie. Eine große Geschichte von düsteren Highways, von der Einsamkeit der Straße und dem Horror, der in der ungeheuren Weite der Vereinigten Staaten lauert - erzählt in kurzen, süchtig machenden Episoden.
Ein neuer Trend bricht die Vorherrschaft der True-Crime-Formate: Fiction-PodcastsNun ist das serielle Erzählen nach dem Vorbild erfolgreicher US-Serien wie Breaking Bad, House of Cards oder The Walking Dead die beliebteste und prägendste Erzählform unserer Zeit. Die typischen Merkmale - die komplexe und detailversessene narrative Struktur, der epische Spannungsbogen, der die Geschichte von Cliffhanger zu Cliffhanger treibt - werden von unzähligen Produktionen verwendet und von manchen perfektioniert.
Podcasts zum Anhören haben die Idee des seriellen Erzählens bisher nur auf dokumentarische Formate angewandt. Bekanntestes Beispiel: die Podcast-Serie Serial der US-amerikanischen Journalistin Sarah Koenig. In jeder Staffel widmet sie sich einer Person und ihrer Geschichte. Sie recherchiert, sie interviewt, sie prüft Fakten. Am Ende steht keine Reportage oder Fernsehdokumentation, sondern eine Reihe von Podcast-Episoden, die sich zu einer großen, wahren Erzählung fügen. Bislang hat Koenig so die Geschichten von Adnan Syed, der für den Mord an seiner Highschool-Freundin verurteilt wurde, und von US-Soldat Bowe Bergdahl, der fünf Jahre in Taliban-Gefangschaft verbrachte, aufgearbeitet.
Podcasts wie Serial und seine vielen Nachfolger erzählen wahre Geschichten, oft wahre Verbrechen (True Crime), mit den Mitteln der Serie. Alice Isn't Dead holt diese Technik nun dorthin zurück, wo sie einst entstand: in die Welt der Fiktion. Und die Geschichte von der Suche einer namenlosen Truckfahrerin nach ihrer verschollenen Ehefrau steht nicht alleine da. Sie ist Teil eines neuen Trends, der sich in den USA gerade daran macht, die Vorherrschaft der True-Crime-Formate zu brechen. Dieser Trend heißt: Fiction-Podcasts.
Hinter diesem Begriff steckt zunächst einmal nichts anderes als das gute alte Hörspiel. Eine erfundene Geschichte, erzählt über Stimmen, Geräusche und Musik. Doch die Dramaturgie ist hier nicht auf eine einzige Folge ausgerichtet, nicht einmal auf eine Reihe von Folgen, sondern gleich auf mehrere Staffeln. Es ist die Wiedergeburt des Hörspiels aus dem Geiste der HBO-Serie. Aber kann das funktionieren? So ganz ohne Bilder von massenvernichtenden Drachen, von unheimlichen Südstaaten-Sümpfen und von stolpernden Zombie-Horden? Es funktioniert sogar sehr gut. Es ist bemerkenswert, wie Alice Isn't Dead und andere fiktionale Podcasts mit den geringsten Mittel eine Spannung aufbauen, die mit den Erzählbögen der großen Fernsehserien mithalten kann.
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