Julia Weise

Digital-Redakteurin, Münster

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Artikel

Eine Hundertjährige erinnert sich

Für Johanna Tenz sind es die schönsten Erinnerungen an ihr langes Leben: Ihre Kindheit in Sachsen in den 1920er-Jahren. Die Hundertjährige erzählt von Freundschaft, ihrer Schulzeit, Poesie, ihrer Lieblingsspeise und ihren Wünschen für 2020.

Johanna Tenz' eisblaue Augen funkeln, wenn sie an Wolfgang, Gottfried, Paul und Rudi denkt. Mit ihnen hat sie in ihrer Kindheit auf der Straße im Matsch gespielt. „Je dreckiger wir waren, desto glücklicher waren wir", sagt Tenz. Die Freunde standen dann immer vorher vor ihrer Haustür und riefen „Hanni, komm runter!", bis Johanna, die von ihren Freunden nur Hanni genannt wurde, dazu stieß und sie „Blinde Kuh" oder „Ich sehe etwas, das du nicht siehst" spielten. Es war eine glückliche Kindheit, an die sich die Hundertjährige jeden Abend vor dem Schlafengehen erinnert. „Das möchte ich noch mal erleben", sagt sie mit Wehmut in der Stimme.

Johanna Tenz wurde als Johanna Naumann am 19. August 1919 im sächsischen Waldheim nahe Dresden geboren. Sie ist die zweite von vier Kindern - zwei Schwestern Gertrud und Marianne und ein Bruder Walther. „In den Suppentopf guckten manchmal mehr Augen rein als raus", sagt sie. Obwohl sie nicht reich aufgewachsen sind, gab es doch immer genug für jeden. Denn: „Wir haben alles geteilt", sagt Tenz. Für ihre Mutter wurde sie oft auf den Markt geschickt, um Gemüse und Kartoffeln einzukaufen. Dabei hatte Tenz eine Schwäche für Marzipankartoffeln. Wenn Johanna Tenz an die 1920er denkt, dann denkt sie an Gedichte und Lieder. „Musik war für mich mein Leben", sagt sie. Das erste Lied, das sie gelernt hat, war „Der Mond ist aufgegangen" von Franz Schubert, das erste Gedicht der Erlkönig von Johann Wolfgang von Goethe. In der Grundschule wurde sie mal mit einer Eins für Goethes „Osterspaziergang" benotet. „Vom Eise befreit sind Strom und Bäche / Durch des Frühlings holden, belebenden Blick, / Im Tale grünet Hoffnungsglück, / Der alte Winter, in seiner Schwäche, / Zog sich in rauhe Berge zurück", als sie die erste Strophe des Gedichts von 1808 aufsagt, füllt Tenz' Strahlen den ganzen Raum in der Altenwohngemeinschaft im Neusser Elise-Averdieck-Haus, wo Tenz nun seit zwei Jahren lebt. Mit 100 Jahren ist das Erinnerungsgut ihr größter Schatz; besonders, wenn diese Erinnerungen bis zu 90 Jahre zurück liegen.

Altersstruktur der Neusser Bevölkerung

Einwohner 159.708

Altersgruppen Die Statistikstelle der Wirtschaftsförderung unterscheidet 2019 15 Altersgruppen. In der jüngsten sind 4768 Kinder von null bis drei Jahren (drei Prozent). Die über 75-Jährigen bilden die älteste Gruppe mit genau 17.213 Menschen. Das sind 10,8 Prozent der Neusser.

Großteil Die 50- bis 60-Jährigen bilden mit insgesamt 25.827 Bürgern (16,2 Prozent) die größte Altersgruppe in Neuss.

Kleinteil Die kleinste Gruppe schafft es mit 4682 Drei- bis Sechsjährigen auf 2,9 Prozent.

So erinnert sich Tenz auch daran, wie sie ihren Schulfreunden kleine Spick-Zettelchen geschrieben und bei benötigter Hilfe zugeschoben hat. „Wir waren damals auch schon Schlingel", sagt Tenz mit einem verschmitzten Grinsen. Zur Schule sei sie immer gern gegangen, obwohl der Lehrer, Herr Richter, sehr streng gewesen sei. Deutsch war ihr liebstes Fach, im Gegensatz zur Mathematik und dem Sportunterricht. Denn da habe man ja nur mit Stäben und Keulen herumjongliert, die immer aus den Händen gefallen seien, so Tenz.

Tenz selbst hat klassisch für das Zeitalter der „Goldenen 20er" als junges Mädchen einen Bobschnitt getragen. Ihr liebstes Kleidungsstück war ein Faltenrock, den sie beinahe jeden Tag um ihre Hüften trug. „Ich war ja ein zartes Persönchen", sagt Tenz mit einem Augenzwinkern. Heute trägt sie eine beigefarbene Strickjacke, darunter einen schwarzweiß-gemusterten Pullover. Ihre mittlerweile ergrauten Haare sind immer noch auf Kinnlänge, allerdings ohne Pony. Eine Spange hält die Haare im Seitenscheitel aus Tenz' freundlichem Gesicht. Über die von Krieg geprägten Jahrzehnte nach den 1920er Jahren hat Tenz das kindliche Funkeln in ihren Augen nicht verloren.

Auf das neue Jahr 2020 ist Tenz gespannt. Es ist ihr zehntes Jahrzehnt. „Ich bin immer neugierig und von allem Neuen begeistert", sagt sie. Früher gab es an Neujahr immer ein Marzipanschweinchen mit vierblättrigem Kleeblatt. „Das gehörte einfach dazu", sagt Tenz. Neujahrsvorsätze hingegen mache sie sich nicht mehr, sie lasse lieber alles auf sich zukommen. Aber Wünsche für die Zukunft hat die Hundertjährige: Frieden. Und ein weiterhin so gutes Gedächtnis. „Ich prüfe mein Gehirn gerne ab und zu, um zu sehen, wie viel ich noch weiß", sagt Tenz. An ihre Kindheit in den 1920er Jahren kann sie sich noch lebhaft erinnern. Das Wichtigste ist ihr dabei, die Namen ihrer Schulfreunde nicht zu vergessen.

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