Julia Weise

Digital-Redakteurin, Münster

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Kolumne

Brauche ich ein rotes Auge?

Der Wecker bleibt stumm, die Sonne steht tief in meinem Zimmer und die Kinder vor dem Fenster haben einen Lautstärkepegel erreicht, der es mir nicht erlaubt, länger im Bett zu gammeln. So sieht ein perfekter Morgen aus. Der erste Schritt geht wie üblich direkt zur Kaffeemaschine, der Blick auf die Küchenuhr: 14 Uhr. Na gut, dann eben der perfekte Mittag. Ich pflanze mich aufs Wohnzimmersofa und zappe von einem Sender zum nächsten und mir wird sofort klar, dass ich die schlechteste Zeit erwischt habe, um etwas Sinnvolles im Fernsehen zu sehen. Also bleibe ich bei irgendeiner Folge einer amerikanischen Serie hängen, die wahrscheinlich schon zum fünften Mal im Free-TV wiederholt wird.

Bevor ich den Fernseher ausschalten möchte, taumelt meine Mittbewohnerin aus ihrem Zimmer, fängt hysterisch zu lachen an als sie mich sieht und läuft mit ihrem Zeigefinger auf ihrem linken Auge gerichtet zu mir. „Guck mal, was mir gestern passiert ist“ und plumpst neben mir aufs Sofa. Ein angeschwollenes rotes Auge und ich bin amüsiert und schockiert zugleich – welche Geschichte da wohl wieder hinter steckt… Anna erzählt mir von einer Indie-Party letzte Nacht. Dass ihre Freunde sich schon aus dem Staub machten, bevor es erst richtig losging, sie sich aber mit den DJs anfreundete, viel trank und tanzte, bis sie schließlich ihr eigenes Auge während exzessiven Tanzens mit einer Bierflasche demolierte. Ausversehen natürlich.

„Und was hast Du gestern gemacht?“ Jetzt bin ich an der Reihe. Hm, mal überlegen. Die Frage ist mir etwas unangenehm, denn ja – was habe ich eigentlich gemacht? Ich saß im Bett, habe mir unzählige YouTube-Videos angesehen, auf Snapchat verfolgt, was meine liebsten Blogger mit ihrem Leben so machen und dann erfolgreich eine neue Serie angefangen, die mir auf Facebook empfohlen wurde. Eine ganze Staffel später bin ich so eingeschlafen wie ich heute Mittag vom Lärm auf der Straße wieder aufgeweckt wurde. Im Vergleich zu Annas Story klingt meine Geschichte ein bisschen traurig. Stimmt etwas nicht mit mir? Bin ich nicht sozialisiert? Warum bevorzuge ich einen Abend allein vor dem Laptop einer Partynacht?

Nur weil ich jung und Single bin, heißt es nicht, dass ich nicht auch mal einen Omi-Abend haben darf. Wieso muss es mir peinlich sein, meinen Freunden davon zu erzählen? Sind wilde Partys etwa die einzige Ausrede, um auszuschlafen und den Abend zu genießen? Darf man nur noch damit herumprahlen, wie viel man getrunken hat und wen man mit nach Hause geschleppt hat? Brauche ich ein rotes Auge, damit jeder sieht, wie wild ich bin?

Nein. Warum sollte ich nicht mal einen Abend auf YouTube verbringen? Wir machen es doch auch sonst. Nonstop. Sobald wir aufwachen, in der Uni, auf dem Weg zur Arbeit, in der Mittagspause. Wir gehören nicht umsonst zu den „Digital Natives“. Der Generation Y. Den Millennials, oder wie wir sonst noch in den Zeitschriften, die in den Wartezimmern unserer Hausärzte liegen, genannt werden. Das Internet ist unser Ruhepol, unsere Base. Es lässt uns den Stress des Alltags vergessen. Lässt uns runterkommen und einfach mal abschalten.

Also Menschen da draußen: Bleibt zuhause, gönnt euch einen schönen Abend nur für euch, erlebt, wie es ist alleine zu sein, bleibt nüchtern, geht ins Internet, macht das, wonach ihr euch grade fühlt. Ohne Stress und sozialen Druck. Schämt euch nicht dafür. Erzählt es euren Freunden. Und dann geht raus. Feiert. Lebt. Trinkt. Holt euch ein rotes Auge. Einfach nur um zu wissen, wie es sich anfühlt.