Julia Segantini

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Geplante Abschaffung der Sozialwissenschaften stößt auf Widerstand

Das Land NRW plant eine Abschaffung des Fachs Lehramt Sozialwissenschaften zugunsten des Fachs Wirtschaft-Politik. Bei Gewerkschaften und Fachschaftsräten stößt das auf Widerstand. Warum sie die Entwürfe inakzeptabel finden, haben wir Berthold Paschert, Pressesprecher der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft im Landesverband Nordrhein-Westfalen (GEW NRW), und Bastian vom Fachschaftsrat Lehramt Sozialwissenschaften (FSR La Sowi) der Universität Duisburg-Essen (UDE) gefragt.
 

Schon seit Schuljahresbeginn werden Schüler:innen im Land NRW in dem neuen Fach Wirtschaft gelehrt. Den Unterricht übernahmen bisher Lehrende, die Sozialwissenschaften studiert haben. „Die Sozialwissenschaften sind ein überaus interdisziplinärer Studiengang. Aktuell ist das Studium in die drei Teilbereiche Politikwissenschaft, Soziologie und Ökonomie unterteilt. Diese greifen in vielen Bereichen ineinander und ergänzen sich", erklärt Bastian den Studieninhalt. Die schwarz-gelbe Landesregierung will den Fokus nun stärker auf die ökonomische Bildung legen und plant eine Abschaffung des Fachs Lehramt Sozialwissenschaften. So steht es im Entwurf zur Änderung der Lehramtszugangsverordnung.


Das Ziel des neu konzipierten Fachs Wirtschaft-Politik und der damit verbundenen Stärkung des ökonomischen Aspekts der Allgemeinbildung erklärt ein Pressesprecher des Ministeriums für Schule und Bildung (MSB) auf Anfrage der akduell so: „Diese Kompetenzen, die neben Kenntnissen der Wirtschaftsordnung auch Aspekte der Verbraucherbildung umfassen, dienen der Vorbereitung der Schülerinnen und Schüler auf eine selbstbestimmte Lebensgestaltung und einen erfolgreichen Berufseinstieg."


Gewerkschaften und Fachschaften protestieren
 

Bisher sind die geplanten Änderungen nicht in Kraft getreten, die Verabschiedung durch das Kabinett steht noch aus. Aktuell haben Bildungsverbände noch die Möglichkeit, sich zu positionieren. Die GEW NRW und diverse Fachschaftsräte, so auch der FSR La Sowi der UDE, sind sich einig. „Für mich sieht das sehr danach aus, als wenn man dem Drängen von wirtschaftlichen Playern nachgeben würde. Politische Bildung ist viel mehr als ökonomische Bildung", sagt Berthold Paschert, Pressesprecher der GEW NRW.


Die Soziologie befasst sich unter anderem mit gesellschaftlichen Strukturen, zum Beispiel mit Aspekten des demographischen Wandels und wachsenden sozialen Ungleichheiten. „Aus unserer Sicht sind diese Themen auf keinen Fall zu vernachlässigen, da sie große Bedeutung für die aktuelle Politik und unsere Leben haben", stellt Bastian klar. Die Position des FSR La Sowi ist klar: „Wir bezweifeln, dass es in Zeiten des wachsenden (Rechts)Populismus, der Falschnachrichten und gesellschaftlichen Spaltung richtig ist, soziologische Inhalte aus der Schule und dem Studium zu kürzen und eine der drei Teildisziplinen stärker zu gewichten."


Unbegründete Sorgen, meint das MSB. Wirtschaft-Politik berücksichtige die politische Bildung in einem ausreichenden Maße, die Erziehung zur Mündigkeit und das Erlernen von Demokratiefähigkeit bleibe eines der Hauptziele. „Bereits bei der Konzeption und Erarbeitung des Fachs wurde von Seiten des Ministeriums für Schule und Bildung Wert darauf gelegt, dass die Einführung beziehungsweise Neukonzeption des Schulfachs Wirtschaft nicht zu Lasten anderer Fächer oder Lernbereiche erfolgt", heißt es aus dem MSB.

Eine Anpassung der Lehrpläne und Studieninhalte sieht der Entwurf dennoch vor. Paschert sieht das kritisch, denn die Umwandlung der Sozialwissenschaften in das Fach Wirtschaft-Politik bedeute eine andere Zuständigkeit der Fakultäten und eine Verschiebung der Inhalte. „Es zeigt sich bei den Universitäten, die jetzt die Vorreiterrolle annehmen, dass in einer ersten Planung gar keine soziologische Vorlesung mehr für das Studienfach Wirtschaft-Politik geplant ist", so der Pressesprecher der GEW NRW. Außerdem könnten diese weitreichenden Veränderungen bewirken, dass Soziologiefakultäten erheblich unattraktiver für Studienanfänger:innen würden.


Bastian vermutet außerdem Nachteile für die akademische Mobilität. „Während die Sozialwissenschaften eine etablierte akademische Disziplin darstellen, ist Wirtschaft-Politik ein Schulfach in der Sekundarstufe I. Wir befürchten Probleme für Studierende, die sich beispielsweise nach dem Bachelor gegen eine Lehramtsoption entscheiden", sagt er. Die Frage, ob ein Bachelor in Wirtschaft-Politik dieselben Chancen wie ein Bachelor in Sozialwissenschaften bietet, bereitet ihm Sorgen.


Klare Forderungen an das Land
 

Die GEW NRW stellt sich klar gegen die geplanten Anpassungen und spricht sich für die Erhaltung der Sozialwissenschaften aus. „Es gibt Studien, die zeigen, dass bereits jetzt Schüler*innen nur wenig Politik bekommen, angesichts der gesellschaftlichen Entwicklungen und dem Auftrag von Schule, Schüler:innen zur Teilnahme und Gestaltung der Demokratie zu befähigen. Wir brauchen im Gegenteil eine Stärkung der politischen Bildung, keine Schwächung", betont Paschert. Außerdem fordert die GEW NRW, dass Studierende aus den Sozialwissenschaften nicht gezwungen werden dürfen, das Studienfach zu wechseln. „Alle, die ihr Studium im Fach SoWi angefangen haben, müssen es auch in einer angemessen langen Frist beenden können und eine vollständige Anerkennung erfahren", bekräftigt der Pressesprecher. Der FSR La Sowi unterstützt diese Forderungen.


Er steht deshalb mit allen Beteiligten im Austausch; mit Franziska Müller-Rech, bildungspolitische Sprecherin der FDP, mit Gewerkschaften, anderen Fachschaftsräten, Medien und anderen Landtagsfraktionen. Am wichtigsten sei, über das Thema aufzuklären. Wie sich der Fachschaftsrat dafür engagieren will, erklärt Bastian so: „Wir haben Fragen gesammelt, sie Frau Müller-Rech gestellt und die Antworten im Nachhinein aufbereitet, um sie für unsere Studierenden festzuhalten." Zudem hat der FSR den Hashtag #SoWibleibt gestartet, „um die Thematik in den sozialen Netzwerken zu verankern." Den nutzt mittlerweile auch die Opposition im Landtag. Außerdem befürwortet Bastian die durch eine Kommilitonin ins Leben gerufene Petition, die inzwischen über 28.000 Unterschriften zählt.

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