Julia Segantini

Volontärin bei Lensing Media, Essen

1 Abo und 1 Abonnent
Artikel

Alternativer Stadtrundgang: Hier tobten die Nazis in Essen

Die meisten Stadtbesichtigungen heben die schönsten Sehenswürdigkeiten hervor, die eine Stadt zu bieten hat. Beim alternativen Rundgang der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) passiert das Gegenteil: 15 Stationen im Essener Zentrum geben einen Eindruck vom Ausmaß der nationalsozialistischen Verbrechen in der ehemaligen „Waffenschmiede des Reiches".
 

Die Sonne brennt heiß auf den Asphalt, als sich eine kleine Menschentraube vor dem Handelshof direkt gegenüber vom Essener Hauptbahnhof versammelt. In einigen Metern Entfernung steht ein großer Streifenwagen, mehrere Polizist:innen beobachten uns, teils mit verschränkten Armen, teils mit wachsamen Blicken in die Umgebung.

Sie begleiten die Veranstaltung, damit sie vor möglichen Attacken geschützt bleibt. Trotz der Hitze tragen alle Teilnehmenden eine FFP2-Maske, das ist den Veranstaltenden vom VVN-BdA wichtig. Die Vereinigung ist ein überparteilicher und generationsübergreifender Zusammenschluss von Verfolgten des Naziregimes beziehungsweise deren Nachkommen, überlebenden Widerstandskämpfer:innen und Antifaschist:innen. Die Mitglieder haben sich der Erinnerung der Holocaust-Opfer und der Erforschung der nationalsozialistischen Verbrechen verschrieben. Der alternative Stadtrundgang ist eins der Projekte der Bundesvereinigung.

Transporte in den Tod

Erste Station ist der Hauptbahnhof. „Von hier begannen die Transporte in den Tod", leitet eine Rednerin die Tour ein und deutet auf das große Gebäude mit der gläsernen Fassade hinter sich. An der Hollestraße ist es laut. Die Vortragende muss sich trotz ihres Mikrofons gegen den Lärm der hupenden Autos und vorbeibrausenden Busse behaupten. Fast unmerklich treten die Zuhörenden immer näher an sie heran und spitzen die Ohren, um ihre Stimme besser verstehen zu können. „In der Zeit von Oktober 1941 bis September 1943 wurden hier vom Hauptbahnhof und vom Güterbahnhof Segeroth 1.200 jüdische Bürgerinnen und Bürger aus Essen deportiert.

Vor den Augen von Passanten und Reisenden", sagt sie, während gehetzte Menschen die Ampel überqueren und ins Bahnhofsgebäude eilen. Aus Essen gelangten die Jüdinnen und Juden Richtung Polen. „Der kleine Ort Izbica lag eisenbahngünstig zu den Vernichtungslagern Belzec, Sobibor, Treblinka. Von Izbica ging es auch weiter nach Riga oder Minsk. In den Wäldern um Riga und Minsk wurden die Deportierten von Erschießungskommandos der SS ermordet", berichtet die Rednerin mit schwerer Stimme.

Ingesamt starben während der NS-Zeit 2.500 Essener Jüdinnen und Juden. Die Deutsche Reichsbahn sei ein wesentlicher Teil der nationalsozialistischen Verbrechen gewesen, ohne die die industrielle Ermordung von Millionen europäischer jüdischer Menschen, Sinti:zze und Rom:nja nicht möglich gewesen wäre, so die Rednerin. Als sie das Mikro absetzt und den Blick hebt, müssen alle tief durchatmen. Auch wenn die Geschäfte an diesem Sonntag geschlossen sind, nutzen viele Familien das gute Wetter für einen gemütlichen Spaziergang durch die Innenstadt. Auch wir entfernen uns langsam vom Hauptbahnhof, die ersten Schritte zur nächsten Station haben etwas Schwerfälliges und Bedächtiges.

„Nicht angemessen und nicht würdig"

Unser Ziel liegt direkt unter der Rathaus-Galerie, im Treppenaufgang zur Porschekanzel. Auf den ersten Blick kaum sichtbar, neben einem großen grauen Parkhaus, befindet sich die Gedenkstätte des KZ-Außenlagers Schwarze Poth, die „Stadtwunde". „Willkommen in dieser Baustelle, im Schatten der Essener Erinnerungskultur, vom Uringestank getränkt", begrüßt der nächste Redner die Anwesenden mit kritischem Blick auf die Bauzäune und Reste von Bauschutt, die sich neben der Gedenkstätte häufen.

Während der letzten Kriegsjahre wurden hier rund 150 Zwangsarbeiter:innen verpflichtet. Der Betrieb habe sich „unter den Augen hunderttausender Essenerinnen und Essener abgespielt", moniert der Sprecher, während die Zuhörenden sich dankbar in den kühlen Schatten retten. Das Fazit der Veranstaltenden über die versteckt gelegene und von Baustellen umgebene „Stadtwunde": „Im derzeitigen Zustand einer Stadt und Zivilgesellschaft, die an die Verbrechen erinnern soll, ist das nicht angemessen und nicht würdig."

Wieder sind die ersten Schritte der Teilnehmenden zum nächsten Ort etwas schwerfällig, auch weil die Hitze einem immer mehr Schweißtropfen auf die Stirn treibt. Manche verweilen einen Augenblick an der Gedenkstätte. Die Polizist:innen schlendern mit einigen Metern Entfernung hinter uns her, der Streifenwagen begleitet die Gruppe im Schritttempo. Wir bewegen uns Richtung Schützenbahn, über die Kreuzung zum Gerling-Platz. Wenige Meter vom Panoptikum, der alteingesessenen Eckkneipe mit den vergilbten Fenstern, bleiben wir stehen.

Hier fand am 21. Juni 1933 eine Bücherverbrennung statt, „inszeniert von der deutschen Studentenschaft", sagt eine VVN-BdA-Sprecherin ins Mikro. Mit sogenannten „Feuersprüchen" übergab man die literarischen Werke den Flammen. Einige verliest die Rednerin: „Für Zucht und Sitte in Familie und Staat! Ich übergebe der Flamme die Schriften von Heinrich Mann, Ernst Glaeser und Erich Kästner. Gegen Frechheit und Anmaßung, für Achtung und Ehrfurcht vor dem unsterblichen deutschen Volksgeist! Verschlinge, Flamme, auch die Schriften von Tucholsky und Ossietzky!" Währenddessen schauen die Zuhörenden immer wieder mit besorgen Blick in den Himmel. Die Sonne versteckt sich hinter dicker werdenden Wolken, die Luft hat sich merklich abgekühlt. Gerade als die ersten dicken Tropfen fallen, endet der Stadtrundgang.

*Der VVN-BdA plant weitere alternative Stadtrundgänge, unter anderem am Sonntag, 22. August um 14.00 vor dem Handelshof. Hier findet ihr weitere Infos.
Zum Original