Julia Segantini

Volontärin bei Lensing Media, Essen

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Ein Streifzug durch Essens Kolonialvergangenheit

Aktuelle Debatten um Rassismus fordern mehr Aufklärung über die deutsche Kolonialvergangenheit. Spuren von Kolonialismus finden sich nicht nur in Hafenstädten wie Hamburg oder Flensburg. Auch in Essen zeigt sich in Denkmälern, Straßennamen und anderen städtischen Standorten das koloniale Erbe der Stadt. Wir nehmen euch auf einen Stadtrundgang mit und erforschen ein Stück der Essener Geschichte.

Die Stadtführung beginnt am Stadtarchiv. Eine kleine Gruppe wartet vor dem Eingang. Die Teilnehmenden packen nach und nach ihre Regenschirme aus und ziehen den Reißverschluss ihrer Jacken bis ganz nach oben, denn einzelne Regentropfen beginnen zu fallen. Die Alltagsmaske tragen wir während der gesamten Führung. Pünktlich um 17 Uhr startet die Tour direkt gegenüber vom Haus der Geschichte am Bismarck-Denkmal. Seit seiner Fertigstellung 1899 steht es am selben Standort auf dem Bismarckplatz, wo sich heute die Deutsche Bank befindet.

Debatten um Denkmäler

„Solange ich Reichskanzler bin, treiben wir keine Kolonialpolitik", deklarierte Bismarck 1883. Nur ein Jahr Später verhandelte er mit anderen Kolonisten bei der Kongo-Konferenz über die Aufteilung Afrikas, erklärt Tour-Leiterin Kerstin Rosery von der Projektleitung Postcolonial Tracks Essen gut gelaunt, während sie ihren eigenen Schirm aufspannt. An der Kreuzung am Bismarckplatz ist es laut. Rosery muss sich gegen den Lärm des Feierabendverkehrs und der raschelnden Bäume durchsetzen.

Sie interessiert sich für die aktuellen Debatten um die Abschaffung kolonialer Denkmäler. Allerdings bevorzugt sie eine kritische Auseinandersetzung mit selbigen. Tragödien wie der Völkermord an den Herero und Nama könne man anschaulich anhand dieser Denkmäler diskutieren. Zusätzlich könne man sich so damit beschäftigen, wie sich der deutsche koloniale Gedanke über die Zeit verändert habe. „Nach dem ersten Weltkrieg wurden die deutschen Kolonien enteignet. Das heißt aber nicht, dass der koloniale Gedanke verschwunden wäre." Gezeigt habe sich das im Kolonialrevisionismus der Weimarer Republik und später auch im Nationalsozialismus.

Organisierte Ideologie

Wie eine Schulklasse traben wir über die Kreuzung, an der Stiftung Mercator vorbei zur Philharmonie. Vor dem imposanten Gebäude der Philharmonie bleiben wir stehen. Trotz des tristen Wetters wirkt es feierlich und einladend. Dort wo die Menschen heute klassischer Musik lauschen, tönte es früher ganz anders: Im Saalbau des Kulturhauses organisierte Anfang des 20. Jahrhunderts die Essener Abteilung der Deutschen Kolonialgesellschaft (DKG) ihre koloniale Lobbyarbeit.

„Der koloniale Gedanke war nicht unbedingt in der gesamten Essener Gesellschaft verankert. Deswegen wollte die Deutsche Kolonialgesellschaft Abteilung Essen die Wichtigkeit von Kolonien bewerben und die Ausbeutung legitimieren", erklärt Rosery. „Auch Schulbücher sind in diesem Zuge entstanden. Viele Bücher sind heutzutage immer noch sehr veraltet und zeigen ein wenig differenziertes Bild von Afrika", bemängelt sie.

Nach dieser Station geht es über die Huyssenallee Richtung Hauptbahnhof. Über den Bahnhof geht es in die Innenstadt, wo Shoppingbegeisterte mit vollen Einkaufstüten und gehetzten Gesichtsausdrücken vor dem ungemütlichen Wetter flüchten. Aus den Cafés strömt warme Luft und der Duft nach heißem Kaffee. Trotzdem steuern wir zielstrebig den Dom an und bleiben in den Gängen, die um den Domgarten führen, stehen.

1730 ‚schenkte' der Kaufmann Adam Schiffer der Fürstäbtissin Franziska Christine von Pfalz-Sulzbach einen Schwarzen Jungen aus Surinam. Der vermutlich erste Schwarze Junge in Essen wurde Ignatius Fortuna getauft und stand fortan im Dienste der Fürstäbtissin, zu der er ein enges Verhältnis gepflegt haben soll. Rosery erklärt: „Nach seinem Tod erhoben die Erben des Händlers Anspruch auf sein Vermögen." Er als ‚Mohr' sei kein vernunftbegabtes Wesen, so deren Begründung.

Kapitalismus und Kolonialismus

Bestürzt nach dieser Geschichte laufen wir als nächstes zur ‚Stadtwunde'. Zu diesem Ort der Erinnerung sind es nur wenige Schritte. Sie befindet sich etwas versteckt unter der Rathaus-Galerie am Porscheplatz. „Selbst Essener kennen diesen Ort selten", meint Rosery und deutet auf die schmalen Baumstämme auf Treppe, die hinter Gitterstäben in grünem Licht leuchtet.„Unterhalb des Citycenters befand sich die Straße Schwarze Poth, wo sich zwischen 1943 und 1945 eine Kommandantur eines Außenlagers des KZ-Buchenwalds befand. Die Häftlinge waren im Keller einer nahegelegenen Gaststätte untergebracht und wurden als Kriegsgefangene festgehalten. Das ganze war dem KZ Buchenwald zugeordnet. Hier an diesem Ort, der heute Porscheplatz heißt, erinnert man sich also an den Automobilhersteller Porsche und seit 2002 auch durch die Errichtung der Gedenkstätte Stadtwunde an das KZ-Außenlager Schwarze Poth", erzählt Rosery, während wir in der dunklen Unterführung stehen.

Der Porscheplatz wurde nach Ferdinand Porsche benannt. Er ließ tausende Zwangsarbeitende aus Konzentrationslagern für sich schuften und war SS- und NSDAP-Mitglied. Die ‚Stadtwunde' steht auch für das Nachdenken über einen ‚Schwarzen Holocaust'. Die Forschung aus diesem Bereich sucht nach Zusammenhängen zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus.Trotz des ungemütlichen Wetters bewegen wir uns auf die Marktkirche, geradewegs auf das Krupp-Denkmal zu. Durch die Familie Krupp wurde Essen zu einem der bedeutendsten Industriestandorte des Deutschen Reiches. Der erfolgreiche Handel mit Kolonialwaren sicherte der Familie das Startkapital. Besonders ertragreich war der Schmuggel mit Kaffee. „Mit dem Kolonialwarenhandel sind die Bürger reich geworden", fasst Rosery den Erfolg der Krupps zusammen.

Nach dieser Station geht es über den Kennedyplatz, an der Haltestelle Hirschlandplatz vorbei und über die Alfred-Herrhausen-Brücke zu den Nobel-Kaffeewerken. Die Essener liebten Kaffee. Unternehmen wie Kotthaus & Nobel profitierten davon und hielten ihre Fabrikarbeitenden strategisch mit einer ordentlichen Ration bei Laune. Die Produktion sei unter sklavischen Verhältnissen geschehen, erklärt Rosery. Die Weltwirtschaft habe massiv vom Kolonialismus und der Ausbeutung der Arbeitskräfte profitiert, sagt die Expertin und schließt damit die Stadtführung ab. Besonders letztere Geschichte hinterlässt einen bitteren Nachgeschmack auf der Zunge, der ganz und gar nicht nach leckerem Kaffee schmeckt.

Die Stadtrundgänge sind kostenlos und erfordern eine formlose Anmeldung per Mail. Zum Original