Julia Segantini

Volontärin bei Lensing Media, Essen

1 Abo und 1 Abonnent
Artikel

Vier Alben mit Schulterpolstern

Eskapismus heißt das Zauberwort, gerade in Zeiten, wo eine Flucht nach draußen nicht möglich ist. Aber auch ohne Pandemie finden viele Musiker*innen schon seit einigen Jahren offensichtlich so wenig Interessantes an aktueller Musik, dass sie lieber in der Vergangenheit nach Inspiration suchen. Häufiges Ziel der Zeitreise: die 80er Jahre. Unsere Redakteurin Julia präsentiert euch aktuelle Alben, die mehr nach Walkman als nach Airpods klingen.


New Arcades - Returning Home, 2019

Ist das noch Synthie oder schon Dream Pop? New Arcades können jedenfalls nicht ohne Synthesizer. Was würde man sehen, wenn man dieses Album malen würde? Lila Neonlichter, eine Spielhalle mit bunt blinkenden Automaten, eine Rollschuhbahn mit blitzenden Lichtern, neonfarbene Stulpen, ein Pärchen, das sich im Halbdunkel küsst. Diese Platte ist das verdammt Romantischste, was ich seit langem gehört habe. Sie klingt ein bisschen nach Ewigkeit und lässt sich im absoluten Kitsch fallen. Hochdramatisch und emotional wird die Geschichte zweier Liebender erzählt, die sich in einer chaotischen Welt wiedervereinen. 

Der zugegebenermaßen seichte Inhalt kommt mit viel 80er- Jahre-Flair und eindeutig modernem Gesang daher. Gut die Hälfte der Songs kommt komplett ohne Gesang aus. Das bleibt aber häufig unbemerkt, weil die Tracks fast nahtlos ineinander übergehen. Diese Platte bietet einen leichten Zugang für Menschen, die sonst eher Mainstream-Radiopop hören. Wer auf New Arcades steht, ist derzeit gut bedient, denn ähnliche Künstler*innen gibt es zuhauf und mit fast identischen Albumcovern. Haltet einfach Ausschau nach Plattentiteln in lila Neonschrift im Retro-Stil, in Kombination mit Bildern von Großstädten und Palmen, Highways oder Vintage-Autos, dann bewegt ihr euch geradewegs in den Synthiepop Himmel.

Für Fans von M83, dem Stranger Things Soundtrack, Blinding Lights von The Weeknd


Blossoms - s/t, 2016

High-Waist-Hosen, weit geschnittene Anzüge, großzügige Hemdkragen, lange Haare, beeindruckende Schnäuzer: Ja, Blossoms haben den Geist der 80er verinnerlicht. Diese fünf Jungs aus Stockport nahe Manchester sind so unfassbar sympathisch und charmant, dass es schon schwer ist, sie nicht zu mögen. Auch wenn sie haarscharf an der Radiotauglichkeit vorbeischrammen, sollten Fans von Mainstream-Pop nicht weghören. Aber auch wer auf Synthie Pop, New Wave und Bands wie The Smiths, die Beatles und die Arctic Monkeys steht, sollte auf jeden Fall ein Ohr riskieren.

Schon diese Assoziationen zeigen, dass Blossoms ganz unverkennbar britisch sind. Offensichtlich wird dies nicht zuletzt am leichten Dialekt von Sänger Tom Odgens. Ganz in britischer Tradition schenken uns Blossoms schönsten Indie Pop-Rock, verspielt, jung und funky. Auch wenn sie Synthesizer lieben, haben sie mehr Kante als üblicher Synthie Pop. Ogdens stellenweise leicht nasale Stimme führt dabei schön weich, leicht und unangestrengt durch dieses Debüt mit erstaunlicher Hitdichte. Spannend bleibt das schultergepolsterte Album bis zum Schluss, weil kein Lied wie das andere klingt, auch wenn es einen einheitlichen Sound gibt. Die vielseitige Platte eignet sich sowohl zum intensiven Zuhören als auch zum nebenbei laufen lassen. 

 Für Fans von The Kooks, Kasabian, ABBA



Soviet Soviet - Fate, 2013

In ihrer Heimat Italien genießt die Band bereits einen hohen Bekanntheitsgrad in der einschlägigen Musikszene. In Deutschland ist das Post-Punk-Trio nahezu unbekannt. Das Debüt klingt, wie die beiden folgenden Werke, nach kaltem Nieselregen und grauem Himmel. Die nasale Stimme von Frontmann Andrea Giometti erinnert etwas an Brian Molko von Placebo. Mit viel Hall zieht sie klebrige Fäden zwischen Gesang und Instrumenten. Wie dunkle Gewitterwolken schwebt über allem Giomettis Bass.

Gute Laune verbreiten Soviet Soviet jedenfalls nicht. Die 80er waren eben nicht nur Madonna, Michael Jackson, Spielhallenromantik, Wohlfühlmusik und Nena. Sie waren auch trist, dunkel und sehnsuchtsvoll. Und weil es diese Gefühle nicht nur in den 80ern gab, holen die Italiener dieses Feeling auch zu uns. Hang zur Melodramatik? Auf jeden Fall. Aber das braucht es manchmal auch. Diese Platte eignet sich, um mit mieser Laune an die Decke zu starren und das Gedankenkarussel mal anzuhalten. Hinterher fühlt man sich besser, weil man weiß, dass man mit diesen Gefühlen immerhin nicht allein ist. Wer dabei noch wütend sein will und es punkiger mag, sollte bei den Landsleuten von LAGS vorbeischauen. Übrigens singen beide Gruppen auf Englisch, also keine Angst.

Für Fans von: Joy Division, The Cure, Killing Joke 



FLUT - Global, 2018

Irgendwie glaube ich, dass der Proberaum dieser fünf Boys aus Österreich mit alten Sesseln von Oma, Spitzendeckchen und Bierflaschen eingerichtet ist. Und dass die sich sonntags zum Tatort gucken treffen. Auch wenn FLUT selbst keine Schlager schreiben, sind sie sicherlich Fan des einen oder anderen seichten Schlagersongs. Das Schöne an dieser Musik ist eben, dass sie einen niemals überfordert. Das haben FLUTverstanden. Denn ohne trivial zu werden, schimmert doch die Leichtigkeit und Unbekümmertheit, die Schlagern oft innewohnt, durch. Das aber immer auch mit einem Hauch Ironie, zum Beispiel im Song Schlechte Manieren – Klaus Lage lässt grüßen!

So balancieren FLUT immer am Rand des Kitschs und übertreten diesen nur gelegentlich mit dem dicken Zeh. An anderer Stelle nehmen sie sich zurück und lassen die Musik weniger aufdringlich, dafür aber atmosphärischer werden und kreieren so eine Platte mit viel Abwechslung. Nicht nur im Songwriting erinnern FLUT ab und an an ihre Landsleute von Bilderbuch. Auch die Gitarristen der beiden Kapellen bewegen sich auf einer Wellenlänge. Die Gitarre am Anfang von Kein Land könnte ebenso einen Song von Bilderbuch einleiten. Das liegt vielleicht daran, dass beide Gruppen sich einen Produzenten teilen. Künstlichkeit, Übertreibung, atmosphärischer Kitsch-Pop (im besten Sinne), das können FLUT jedenfalls. 

Für Fans von Drangsal, Bilderbuch, 

Zum Original