Wenn die Vorlesungszeit zu Ende ist, sind die Unibibliotheken voll mit gestressten Studenten. Sie wälzen Lehrbücher, bis sie den Stoff auswendig herunterbeten können. Fächer wie Jura erfordern besonders viel Disziplin, jeder verlorene Lerntag muss nachgeholt werden. Michael Ackermann kennt das zu Genüge. Der Student hat mittlerweile alle Klausurenphasen seines Studiums an der Uni Frankfurt überstanden und bereitet sich auf sein Staatsexamen im Winter vor. Seit dem zweiten Semester unterstützt ihn das Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk (ELES) mit einem Stipendium.
Das Studienwerk fördert rund 339 besonders begabte und engagierte jüdische Studenten und Promovierende und in Ausnahmefällen solche, deren Forschung jüdische Themen behandelt. ELES gehört zu den konfessionsgebundenen Stiftungen, genauso wie das Cusanuswerk, Villigst und Avicenna. Alle vier zeichnen sich neben der ideellen Förderung durch geistliche Angebote aus.
In jedem steckt etwas BesonderesPassend zur Klausurenphase findet das Gespräch mit Ackermann in einer Bibliothek auf dem Campus Westend statt. Er lächelt, während er den Blick über die Studenten schweifen lässt, die sich an diesem Spätnachmittag auf den verdorrten Rasenflächen verteilt haben. „Alles Juristen." Dass der Dreiundzwanzigjährige mittlerweile für sein Staatsexamen lernt, hat mit der Pandemie zu tun. Und mit der Unterstützung durch ELES.
Kurz vor dem Abitur 2017 hat sich Ackermann das erste Mal auf das Stipendium beworben und wurde abgelehnt. „Ich war noch zu sehr Kind im Kopf", sagt er heute. Welches Privileg es bedeute, ein Stipendiat zu sein, habe er da noch nicht verstehen können. Das für eine Bewerbung erforderliche Engagement hatte er als ehemaliger Schülersprecher und Vorstandsmitglied der Kreis- und Landesschülervertretung sowie als Mitgründer des Jugendforums seiner Heimatstadt vorzuweisen.
Nach einem zweiten Anlauf hat ELES Ackermann zum April 2018 aufgenommen. Zu diesem Zeitpunkt hatte er sein erstes Semester an der Uni hinter sich. „Der Einstand ins Studium ist mir schwergefallen", erinnert sich der Student. Ackermann hat schon als Kind die Diagnose ADHS bekommen. Sich eine feste Struktur wie in der Schule zu schaffen, besonders in seinem Fachbereich, wo viel Konzentration und Selbstdisziplin nötig seien, habe ihn vor große Hürden gestellt.
„Natürlich beschränken sich die Probleme nicht nur darauf, sondern damit gehen noch mehr Schwierigkeiten einher, auch gesundheitlich." Aus Angst vor Stigmatisierung und davor, sich „in gewisser Weise zu disqualifizieren", habe er seine Situation vor dem Studienwerk lange geheim gehalten. Eine unbegründete Sorge, wie sich schließlich herausstellen sollte. „Ich glaube, das ist etwas, was vielen gar nicht unbedingt klar ist: wie sehr einem eigentlich die Studienwerke entgegenkommen", sagt Ackermann.
Gemeinsame Geschichte verbindetDurch die Lockdowns in der Pandemie und der damit verbundenen Ruhe habe er es geschafft, viele Klausuren aufzuholen. „Es hat mir sehr viel Kraft gegeben, zu wissen, die bei ELES glauben an mich, und es ist in Ordnung, wenn ich Probleme habe." Letztlich nehme das Studienwerk eben nicht nur die Menschen mit perfekten Noten auf, sondern solche, in denen es etwas Besonderes sehe. Vielleicht sogar etwas, was diese zu dem Zeitpunkt noch nicht selbst erkennen könnten.
Zu diesem Besonderen zählen unterschiedliche Sichtweisen, Herkünfte und religiöse Strömungen innerhalb der Stipendiatenschaft. ELES schreibt in seinem Leitbild, dass seine Stipendiaten alle Facetten eines pluralen, selbstbewussten und inklusiven Judentums kennen und (er)leben lernen sollten. Durch die Auseinandersetzung mit religiösen und säkularen Fragen könnten sie eigene Positionen entwickeln und diese in die jüdischen Gemeinschaften und die Gesellschaft hineintragen.
„Ein Jude zu sein bedeutet auch, zu einer Gruppe, einem Volk zu gehören", sagt Ackermann. „Die gemeinsamen Traditionen, die gemeinsame Geschichte bilden das Band, das die Juden auch über die Religion hinaus miteinander verbindet." Er selbst ist einer von vielen unter den Stipendiaten, deren Biographie sich nicht in eine Schublade stecken lässt. Als Sohn sowjetischer Kontingentflüchtlinge ist er in Deutschland zur Welt gekommen, im Landkreis Offenbach aufgewachsen und spricht als zweite Muttersprache Russisch.
Sein Großvater hat seine Kindheit in einem Schtetl in Osteuropa verbracht. Er sei sehr religiös gewesen, sagt Ackermann. Von ihm habe er viel über jüdische Traditionen gelernt. Seine Eltern hingegen hätten wegen der Gesetze in der UdSSR, die Religionsausübung weitgehend verboten hätten, keinen engen Bezug zur Religion. Als Jugendlicher habe er die Religionsschule in der Synagoge besucht.
In der Grundschule sei er zum ersten Mal mit auf eine der Ferienfreizeiten der Zentralen Wohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland gefahren. „Diese Erfahrungen haben mich sehr geprägt in der Frage, was Jüdischsein für mich bedeutet", sagt Ackermann. Zwischen den verschiedenen Teilen seiner Identität habe er sich immer irgendwie zerrissen gefühlt. War er nun Deutscher oder Jude?
Und wo ließ sich der sowjetische Teil seiner Herkunft einordnen? Erst ein Auslandsjahr während der Schulzeit brachte ihm eine Art Seelenfrieden. „Ich habe in dieser Zeit Klarheit für mich bekommen: Ich muss mich gegen keinen Teil von mir entscheiden, sie gehören alle zusammen und sind kein Widerspruch in sich." Insbesondere das Jüdischsein mache einen wichtigen Teil von ihm aus, den er pflegen wolle. Auch durch die Förderung von ELES und die Menschen, die er dort kennenlerne.
Mehr Informationen: https://eles-studienwerk.de