Tag der Bombenentschärfung, sieben Uhr morgens. In einer Stunde sollen mehr als 60.000 Menschen die Sperrzone in Frankfurt verlassen haben. In der Messehalle sind gerade mal ein paar Dutzend angekommen. Dabei hat die die Feuerwehr gemeinsam mit den Maltesern, den Johannitern und dem roten Kreuz hier Bänke, Stühle und Tische für 7000 Menschen aufgebaut. Seit vier Uhr morgens sind 150 Helfer im Einsatz, sie haben Tee und Kaffee gekocht, es gibt Bananen, Äpfel und Müsliriegel.
Viele Betroffene sind währenddessen aber noch in der Sperrzone unterwegs. Johannes Beutler läuft mit einem Rollkoffer gegen acht Uhr über den Platz vor der Alten Oper. „Ich wollte sowieso vier Tage nach Hamburg, jetzt gehe ich eben etwas früher zum Bahnhof und trinke noch einen Kaffee." Das Opernhaus liegt im Sperrgebiet, 1,5 Kilometer entfernt soll am Mittag der 1,8-Tonnen-Sprengkörper aus dem Zweiten Weltkrieg entschärft werden, der Anfang der Woche auf einer Baustelle am Campus gefunden wurde. „Ich weiß nicht, ob das Sperrgebiet wirklich so groß sein müsste", sagt der 83 Jahre alte Theologe.
Beutler erinnert sich noch gut daran, wie es war, als die Bomben sehr viel näher einschlugen - und explodierten. „Als Elfjähriger saß ich in Hamburg jede Nacht im Keller, weil die Minen von Himmel fielen", sagt er. Ihn beschäftigt bis heute die Frage, ob der Krieg der Alliierten gegen die deutsche Zivilbevölkerung in dieser Weise wirklich nötig gewesen sei. „Ich sage: Nein. Man hätte doch die Rüstungsindustrie angreifen können, aber musste man Zehntausende Zivilisten umbringen?" Er weiß aber auch: „Die Nationalsozialisten haben mit dieser Art des Krieges angefangen, die Alliierten haben das dann nachgemacht." Im Hintergrund, vor der Alten Oper, tanzt und singt gerade eine Gruppe orthodoxer Juden.
Fährt man weiter ins Sperrgebiet rein, werden die Straßen langsam leerer. Eine alte Frau lehnt auf einem Rollator vor einem kleinen Feuerwehrwagen. „Ich brauche einen größeren Wagen, ich kann nicht so lange sitzen", sagt sie. Hinter ihr laufen zehn Polizisten aus Kassel vorbei. Sie sind seit drei Uhr nachts im Einsatz, gerade ziehen sie von Haus zu Haus, schauen von außen, wo noch Licht brennt oder sich etwas hinter den Vorhängen bewegt. „Wir haben uns bisher drei Wohnungen notiert, in denen definitiv noch Leute drin sind", sagt einer der Polizisten. „Aber mehr als klingeln können wir nicht machen." Sobald jemand die Tür öffnet, könne man ihn in Gewahrsam nehmen, wenn er sich weigere, das gesperrte Gebiet zu verlassen. „Aber wir können nicht die Tür eintreten."
Dann tut sich plötzlich etwas hinter einem Vorhang. Ein Mann lehnt sich im dritten Stock aus dem Fenster. Ein Polizist ruft ihm zu: „Wissen Sie, dass Evakuierung ist?" Der Mann antwortet: „Ja, ich betreue eine Frau, die muss vom Krankentransport geholt werden." Für 11.30 Uhr habe sich der Dienst angekündigt. „Alles klar", ruft der Polizist, notiert den Namen und diktiert dem Mann noch eine Nummer, bei der er sich melden soll, wenn der Krankentransport nicht rechtzeitig kommt. Ob der Mann weiß, wo es hingeht später? „Nein, ich hoffe irgendwohin, wo es gute Suppe gibt."
„Haben Sie ein bisschen Geduld"Wie ihm geht es auch einer Frau, die die Polizei eine Straße weiter am Fenster im Erdgeschoss antrifft. Sie kann heute bei Bekannten unterkommen, sitzt aber im Rollstuhl, deswegen hat sie einen Krankentransport bestellt. „Ich bin extra um viertel vor fünf aufgestanden, weil ich zwischen sechs und acht Uhr abgeholt werden sollte", sagt sie. „Jetzt ist es schon nach neun und ich warte immer noch." Auch ihr gibt der Polizist eine Nummer, bei der sie sich im Notfall melden kann. „Haben Sie ein bisschen Geduld, die Fahrer haben einfach viel zu tun", sagt der Polizist. „Ja, das haben sie vorhin auch schon durch Lautsprecher durchgesagt", antwortet die Frau. Wenig später haben die Polizisten die vier Straßenblocks, für die sie zuständig sind, abgeklappert. „Gebt Ihr in der Zentrale Bescheid, dass wir durch sind?", ruft der Leiter der Gruppe einem Kollegen zu.