Gerade eben hat er sich vor den verblichenen Fotos der Kinder, die hier vor 70 Jahren getötet wurden, leer geschluchzt. Doch es ist noch nicht vorbei. Als Andreas Schendel aus der Dorfkirche tritt, wartet Enrico Pieri auf ihn. Der Alte blickt nur flüchtig in sein verheultes Gesicht, dreht sich um und zeigt auf einen Weg, der sich in einem Wald verliert. „Hier geht es hoch", sagt er. Flink läuft er voraus über die grob gehauenen Steine, trotz seiner 81 Jahre und des kugelrunden Bauchs, den er vor sich herträgt.
Auf der Höhe eines Felsens, vor der ersten Kreuzwegstation, dreht sich Pieri um und verschränkt die Arme hinter dem Rücken. Sein Gast quält sich hinterher. Er hält den Kopf gesenkt, schaut ins Leere. Mit einer Hand hält er sich an seiner Freundin fest. Schendel ist fast vierzig Jahre jünger und drei Köpfe größer als der Mann aus der Toskana mit dem verbrannten, faltigen Gesicht. Aber in diesem Moment wirkt er viel kleiner.
Pieri zeigt auf die Bronzetafel neben dem Jesus, der das Kreuz trägt - die erste Kreuzwegstation. Sie zeigt eine Frau, die nach ihrer Ferse greift, während ihr ein Mann in Uniform den Lauf seines Gewehrs in den Bauch rammt. „Das ist Genny Marsili", sagt Pieri zu seinem Gast. „Sie war gerade dabei, ihre Schuhe auszuziehen, als ein Soldat der Waffen-SS sie erschoss." Pieri dreht sich um, verschränkt die Arme wieder hinter seinem Rücken und läuft weiter den Berg hinauf zur nächsten Station. Sein Gast aus Deutschland bleibt stehen und drückt sich seinen Schlapphut vor die Augen.
Vielleicht war es sein Onkel, der die Frau erschossen hat. Andreas Schendel weiß es nicht. Sicher ist nur: Sein Onkel war dabei, am Morgen des 12. August 1944, als etwa 220 Soldaten der Waffen-SS in das Bergdorf Sant'Anna einfielen. Von den Bergrücken, die Schendel umzingeln, stürmten sie in das Dorf hinunter. Sie trieben die Menschen aus ihren Häusern - überwiegend Frauen und Kinder, die sich hier vor den Bombardements an der Küste versteckten. Dann erschossen die Soldaten sie und zündeten alles an: die Leichen, die Ställe. Deshalb ducken sich hier nur noch eine Handvoll Steinhäuser in die Berghänge rund um die Piazza.
Die meisten Menschen aber wurden von den SS-Männern dorthin getrieben, wo Schendel gerade noch stand. Wohl mehr als insgesamt 500 Menschen massakrierten Schendels Onkel und die Soldaten der Waffen-SS an jenem Morgen. Deshalb ist Schendel jetzt hier.
Es ist wohl das erste Mal, dass jemand aus einer Täterfamilie einen der Menschen aufsucht, der das Massaker überlebt hat. Oradour in Frankreich, Distomo in Griechenland, Marzabotto und Sant'Anna di Stazzema in Italien - viele Kriegsverbrechen haben die Deutschen im Zweiten Weltkrieg begangen. In einem Großteil der Massaker, die bekannt wurden, ist ermittelt worden. Doch nur in den seltensten Fällen kamen die Verantwortlichen vor Gericht. Meist wurden die Verfahren eingestellt, weil die Täter nicht mehr vernehmungsfähig waren oder ihnen eine konkrete Tatbeteiligung nicht mehr nachzuweisen war. So war es auch im Falle von Sant'Anna. 2005 verurteilte ein italienisches Gericht zehn Verantwortliche des Massakers zu lebenslangen Gefängnisstrafen; Deutschland verweigerte die Auslieferung.
Vier Tage zuvor, am Bahnhof von Innsbruck. Schendel und seine Freundin Eleonora, Studentin der Sozialen Arbeit, suchen den EuroCity 87, der sie nach Italien bringt. Schendel hat sich eine Sporttasche über die Schulter geworfen. Der Reißverschluss ist an einer Stelle aufgeplatzt, ein roter Boxhandschuh spitzt dort hervor. Die andere Tasche zieht er hinter sich her. Jetzt rollt sie über Rillen, und er sagt: „Das klingt ja wie ein Maschinengewehr."
Im Zug erzählt er von seiner Familie. Seine Freundin sitzt daneben und blickt aus dem Fenster. Eigentlich trage er keinerlei Verantwortung für das, was sein Onkel hier verbrochen hat, sagt er. „Ich fühle mich auch nicht schuldig." Er kannte den Onkel Heinz ja nicht einmal richtig. Doch seit er von dessen Greueltaten erfahren hat, glaubt er, sich selbst und seinen Vater besser zu verstehen. Nur, wie mag wohl das Treffen mit Enrico Pieri laufen?
Nach dem Tod der ersten Ehefrau heiratete Andreas Schendels Großvater ein zweites Mal und zeugte Alfred, Andreas' Vater. Der wollte weg von der Gewalt und der Armut, die in seiner Familie heimisch waren. Von seinem Vater, der vor seinen Augen so lange auf seine Mutter einschlug, bis er ihr die Rippen brach. Von seinem großen Bruder, der ihn zwang, durch ein Loch im Zaun zu dem jähzornigen Nachbarn zu krabbeln, um Kartoffeln zu klauen. Besonders Heinrich und Günther, die sich nach dem Tod ihrer Mutter mit 16 und 17 Jahren freiwillig der Waffen-SS anschlossen, misstraute er.
Deshalb zog Alfred früh aus, brach den Kontakt zu seinen älteren Brüdern ab und flüchtete sich in Arbeit. So kam es, dass Schendel erst vor wenigen Jahren von Sant'Anna erfuhr, als ein jüngerer Bruder seines Vaters das Haus von Heinrich in einem Fernsehbeitrag erkannte. Heinrich Schendel sei in Italien verurteilt worden, weil er als SS-Unteroffizier ein Kriegsverbrechen mitbefohlen hat, hieß es darin. Aber Deutschland liefere ihn nicht aus. Der Beitrag zeigte Antifa-Aktivisten, erinnert sich Schendel, die vor dem Haus Plakate mit der Aufschrift „Mörder" in die Luft streckten.
Andreas Schendel steht auf, streckt seinen Rücken durch und zieht seinen Laptop aus der Sporttasche. Den hat er mitgebracht, weil er Jugendbuch-Autor ist und auf der Fahrt einen Roman zu Ende schreiben will. Aber jetzt klappt er ihn auf seinen Knien auf und zeigt Familienfotos, Ausweise und Urkunden mit eingeknickten Ecken, die er abfotografiert hat. Bei einem Foto hält er inne. Es zeigt einen großen, weißblonden Mann mit keckem Blick neben einem Haus, vor dem sich Brennholz stapelt. Er umarmt eine Frau mit Blumenschürze, vor ihnen recken sich drei kleine Kinder. Die Uniform des Mannes spannt ein bisschen um den Oberkörper. „Heinrich sieht eigentlich ganz glücklich aus", sagt Schendel und klickt weiter. Die abstehenden Ohren. Das Bubenhafte. Ganz der Andreas. „In den siebziger Jahren arbeitete er als Friedensrichter", erzählt der Neffe. „Viele sagen, er hatte einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn."
Bei seiner Recherche entdeckte Schendel einen Artikel über Enrico Pieri. „Ich will keine Rache", sagt Pieri in dem Artikel. „Ich will nur Gerechtigkeit." Das hat Schendel berührt.
Es ist eigenartig, wie er sich ganz von allein in die Rolle des schuldbeladenen Deutschen fügt. Eben zwängt er sich noch zwischen die Sitzreihen des Zuges und macht so viele Liegestützen, bis sein Gesicht rot anläuft. Dann klappt er wieder seinen Laptop auf und schaut Kampfsport-Videos, die er auf seinem Rechner gespeichert hat, weil er seit kurzem Selbstverteidigung unterrichtet. Er hält den Bildschirm mit beiden Händen fest, nagt an seiner Unterlippe und macht immer wieder „Hmmmm". Da ist er noch Andreas Schendel, der Freund von Eleonora, der Kampfsportler, der Autor, der Reisende.
Da ist er aber auch noch nicht in Italien, denn einmal dort angekommen, wird es anders. In der Dorfbar von Torre del Lago zum Beispiel, wo er wohnt, bewegt er sich wie auf feindlichem Terrain. Das „Dalma" ist eine gewöhnliche italienische Bar in einem gewöhnlichen italienischen Dorf, eine Dreiviertelstunde mit dem Auto von Sant'Anna entfernt. Etwa zehn alte Männer sitzen davor auf Plastikstühlen, blasen den Zigarettenrauch in die schwüle Nachmittagsluft und warten darauf, dass es Abend wird. Schendel schiebt sich vorsichtig an ihnen vorbei, nickt nach links, nickt nach rechts, lächelt. „Un... caffè?", fragt er den Signore hinter der Bar. Dann wagt er sich zwei Schritte vor. „With hot milk? Is it possible?"
Während Schendel sich auf seine Begegnung mit Enrico Pieri vorbereitet, ist dieser wieder mit seiner Piaggio Ape in den Bergen unterwegs. Der Mann in dem dreirädrigen Kleintransporter sieht aus, wie man sich einen italienischen
Bauern vorstellt: Das abgetragene T-Shirt spannt um seinen Bauch, um den Kopf hat er sich ein grünes Tuch gebunden. In besonders holprigen Kurven macht Pieri „Hööööö", schleckt sich über die Lippen und lacht.
Doch wenn er von dem erzählt, was er vor 71 Jahren hier in der Nähe erlebt hat, verzieht er den Mund. In einer Kurve hält er an, steigt aus dem Kleintransporter und läuft einen Feldweg hinunter. Der endet in seinem Garten: einem Berghang, auf dem Aprikosen- und Zitronenbäume wachsen, Zucchini gedeihen und Kaninchen darauf warten, gefüttert zu werden. Pieri setzt sich unter das Vordach neben seine Werkzeugbank und reißt sich das Tuch vom Kopf.
„Rrrrrraus", riefen die Soldaten an jenem Morgen und bollerten an die Tür, erinnert er sich. Die Soldaten trieben ihn, seine Eltern, die beiden Schwestern und Nachbarn den Pfad in Richtung Kirchplatz, dann stießen sie alle zurück in die Nachbarsküche. „Die haben sofort geschossen", sagt er leise und knetet das Tuch in seiner rechten Hand. „Da hörte ich jemanden flüstern." Grazia, das Nachbarsmädchen, hatte sich unter der Treppe versteckt. Sie zog ihn zu sich hinunter. Zwischen den Holzbrettern sahen die Kinder, wie die Soldaten ihre Eltern und Geschwister ermordeten. Dann warfen sie Stroh darauf, zündeten alles an und zogen lärmend weiter.
Das Massaker, an dem Schendels Onkel beteiligt war, ist mit Pieris Leben verwachsen. Er wollte mit seiner Vergangenheit brechen - „tagliare", sagt er und zeichnet einen Schnitt durch die Luft. Deshalb floh er nach der Hochzeit als Gastarbeiter in die Schweiz. Weil ihn die Vergangenheit aber nicht losließ, zog er 1992 zurück nach Pietrasanta, eine Kleinstadt in der Nähe von Sant'Anna, um in seinem Heimatdorf wieder Kartoffeln und Karotten anzubauen und Schüler durch den Ort des Verbrechens zu führen. Wie wird es wohl werden, wenn er Andreas Schendel Sant'Anna zeigt?
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Derweil setzt der Deutsche dort unten in der Dorfbar sich an einen der runden Tische zwischen Schänke und Spielautomat, die Klimaanlage surrt. Schendel glaubt, dass Sant'Anna auch in sein Leben hineinwirkt. „Schon als kleiner Junge hatte ich diese Bilder im Kopf, von toten Frauen und Kindern, die im Wald vergraben lagen", sagt er leise. „Und ich war daran schuld." Er dreht seine Espressotasse zwischen den Händen und murmelt: „Ich sah die Lokalzeitung schon vor mir liegen mit der Schlagzeile: ,Achtjähriger hat Menschen umgebracht und im Wald verscharrt.' "
Dann beobachtet er den Barmann, der gerade einem Mann Campari in den Weißwein schenkt, und blickt auf die leeren Tische um ihn herum. „Bei mir drehte sich alles um Krieg", erzählt er. „Als Kind habe ich im Wald nach Munition gegraben. Was wir an Patronen und Zündern fanden, haben wir hochgehen lassen. Mit einer alten Offizierspistole, die einem Onkel gehörte, habe ich auf Bäume geschossen." Jetzt beugt er sich vor und sagt: „Ich habe mir ständig Waffen und Schlagstöcke in der Garage gebaut. Und meine Eltern haben nie etwas dazu gesagt."
Sie fanden auch keine Worte, als Schendel von der Schule zurückkam und sagte: „Mama, ich glaub', der Frank ist tot." Da hatte er gerade eben den Nachbarsjungen, den er anhimmelte, neben seinem Motorrad auf der Straße sterben sehen. Seine Eltern schwiegen auch, als Schendel von den „Mörder"-Plakaten im Fernsehen erzählte und seinem Vater ein 70-seitiges Dossier mit Texten über das Massaker überreichte, das er für ihn zusammengestellt hatte. „Mein Vater kam mir, als ich klein war, richtig unheimlich und übermächtig vor, in seinem Schweigen", sagt er und blickt auf den Boden seiner Espressotasse. „Erst jetzt habe ich begriffen, dass er mich damit schützen wollte. Aber ich brauchte ein Gegenüber, um aus dem Schweigen herauszukommen", sagt er.
Also begann er, die Worte aus sich herauszuschreiben. Er schrieb einen Brief. Dann fing er neu an, zerknüllte auch den, „zu pathetisch", sagt er und zuckt die Schultern. „Ich wusste ja gar nicht, ob der Empfänger den Brief überhaupt lesen wollte." Deshalb entschied er sich für den kürzesten. Und schickte ihn ab. An Enrico Pieri.
Dresden, 24. Februar 2014. Ich bin der erste in meiner Familie, der sich mit Sant'Anna beschäftigt hat, und ich bin wohl der einzige, der begreift, wie sehr das Verbrechen dort auch unsere Familie geprägt und beschädigt hat. Ich möchte gerne, dass Sie wissen, dass in der Familie Schendel jemand ist, dem es sehr leid tut, was passiert ist. Was passierte, hat hier eine Familie aus einsamen und gequälten Menschen hervorgebracht. Dass die Täter und ihre Familien nur mit einer furchtbaren Selbstlüge leben konnten (nach der Beerdigung hat mein Vater mit Heinrichs Angehörigen gesprochen und sie alle leugnen, was geschehen ist), ja, dass die Täter kein gutes Leben hatten - ich möchte glauben, dass darin doch auch so etwas wie Gerechtigkeit liegt.
Schendel trommelt mit den Fingern auf den Tisch. „Vier Tage später kam die Antwort", sagt er. Da lag es nun, das Kuvert, auf seinem Schreibtisch. „Eine Woche lang schlich ich darum herum, bis ich es endlich öffnete." Pieris deutsche Nachbarin hatte den Brief in dessen Auftrag verfasst. Sie schrieb: Pieri meint, vielleicht könnten auch Sie zum Jahrestag nach Sant'Anna kommen. „Aber da fühlte ich noch ein zu großes Durcheinander aus Schuld, Nichtglaubenkönnen und Wut", sagt Schendel und zuckt mit dem Kopf. „Noch dazu wusste ich zu wenig über meinen Onkel, ja, über unsere ganze Familiengeschichte." Er antwortete nicht.
Bis ihn einige Zeit später die italienische Journalistin Ilaria Lonigro, der Pieri seinen Brief gezeigt hatte, nach Torre del Lago einlud. Inzwischen hatte Schendel erkannt, dass man ein Kriegsverbrechen in der Familie nicht einfach loswerden kann wie ein Kuvert, das man in einen Briefkasten wirft. Es wird an die nächste Generation vererbt, genau wie die Gene, die unsere Augenfarbe oder Nasenform bestimmen. Und man muss damit leben.
Schendel steht auf. „Ich muss durch", sagt er. Damit meint er die Führung durch Sant'Anna mit Enrico Pieri, die für den nächsten Tag ansteht. Den Auftritt mit Pieri, den Geschwistern Pardini, Enio Mancini und all den anderen, die das Massaker überlebt haben, in drei Tagen im „Theater Puccini" in Torre del Lago. Inzwischen hat er mit seinem Vater gesprochen, mit einer Tante, mit dem jüngsten Sohn von Heinrich. Er hat Fotos gesammelt und Kassetten. „Heute habe ich eine gesunde Distanz", sagt er und blickt einem dabei geradewegs in die Augen.
Am nächsten Tag fällt diese Distanz in sich zusammen. Die Mittagssonne brennt auf die Zitronen- und Mandelbäume vor Pieris Terrasse. Er wartet im Schatten der Jalousie. Schendel erkennt ihn sofort. Pieri läuft auf ihn zu, reißt das Gartentor auf, reicht ihm die Hand. Schendel greift danach. Pieri fasst mit der zweiten Hand nach seinen Handgelenken, blinzelt kurz zu Schendel hoch, seine Lippen sind gespannt. „Hmmm", brummt er, zieht Schendel zu sich her und legt ihm den Arm um den Rücken, dann dreht er sich zur Seite weg. Wasser schießt in seine Augen.
In Pieris Wohnzimmer ist es kühl und finster, er hat nur die Terrassentür geöffnet, die Fensterläden bleiben zu. Es knarzt, als sich Schendel neben seine Freundin auf das Korbsofa setzt. Er legt die Hände in seinen Schoß, seine Augen fliehen in alle Richtungen. Die Porzellankännchen im Regal. Die Zitronen. Die Gardinen aus weißem Tüllstoff. Pieri stellt Wasser auf den Glastisch. Dann setzt er sich Schendel gegenüber, auf die Kante des Korbstuhls, und krallt sich an den Armlehnen fest. „Seid ihr zum ersten Mal in Italien?", fragt er und kneift die Augen zusammen. Bevor die Antwort von Schendel und seiner Freundin übersetzt ist, platzt es aus ihm heraus: „Warum seid ihr gekommen?"
Schendel rutscht von einer Pobacke auf die andere, zuckt mit dem Kopf. „Du... hast uns eingeladen", stammelt er. „Mein Vater konnte nicht kommen."
„Ich mache mir große Sorgen um Europa", sagt Pieri, und jetzt klingt es so, als habe er sich die Worte zurechtgelegt. „Die Nationalisten sind wieder auf dem Vormarsch, in Ungarn, in Italien. Wie damals." Er atmet tief aus. „In den siebziger Jahren habe ich dem deutschen Volk vergeben. Wegen Europa! Aber heute schäme ich mich manchmal, Europäer zu sein, wenn ich an das denke, was vor unseren Grenzen mit den Flüchtlingen passiert."
Schendel sieht ins Leere. Er sieht aus, als sei er in Gedanken ganz woanders. Dann rappelt er sich auf. „Aber es ist doch nicht alles negativ", sagt er, seine Stimme klingt zu hoch für diesen großen Körper, „meine Freundin arbeitet mit Flüchtlingen."
„Wir brauchen politischen Willen", sagt Pieri, und es klingt, als wolle er sich hinter seiner Vision vor Schendel verstecken. „Wir brauchen die Vereinigten Staaten von Europa." Dann schiebt er seine Gäste hinaus. Das Gespräch, auf das beide so lange gewartet haben, es kommt einfach nicht zustande.
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Als Schendel sieht, dass Pieri zu seiner Ape läuft, versucht er es noch einmal. Er folgt ihm, streicht mit der Hand über das Fahrerhäuschen. Er lächelt und fragt: „Kann ich mitfahren?" Pieri dreht sich zur Seite weg. Er blickt zu Boden und runzelt die Stirn.
„Wenn dich das zufriedenstellt", sagt er leise. Schendel hat das Fenster geöffnet und hält sich am Dach des Fahrzeuges fest, als sie davonfahren. Pieri umklammert mit beiden Händen das Steuerrad.
Pieri beginnt seine Führung auf der Piazza vor der Dorfkirche. So macht er es immer. Seine Sätze klingen einstudiert, wie sollte es anders sein. „Hier haben die Soldaten 150 Menschen zusammengetrieben", sagt er. „Dann haben sie die Bänke aus der Kirche gerissen, über die Leichen geworfen und alles angezündet." Seine Freundin hält Schendel an der Hand, die andere hat er auf sein Herz gelegt, der Schlapphut klemmt unter der Achsel. So folgt das Paar Pieri in die Kirche.
Der süße Geruch der Lilien erfüllt den Kirchenraum, kaum größer als eine Kapelle. Zwei Vasen stehen dort vorne auf dem Altar, zwischen Plastik-Orchideen, Gummibäumen und einem Wiesenblumenstrauß. Je näher man dem Altar kommt, desto schwerer fällt einem das Atmen. Pieri steigt auf das Podest und führt das Paar rechts um den Altar herum zu einer Tafel, zwei Meter mal vier Meter. Von dort blicken einen die Kinder an, die in Sant'Anna getötet wurden: Babys mit runden Gesichtern, die in weißen Spitzenhäubchen stecken. Buben mit Sakko und Krawatte. Die Rosen, die unter der Tafel hängen, sind verwelkt.
„O Gott, o Gott, die Kinder", sagt Schendel, seine Augen springen von einem Foto zum nächsten, seine Hand klammert sich an die seiner Freundin. Er presst sich seinen Hut vors Gesicht. Seine Freundin steht reglos neben ihm. Pieri weicht fünf Schritte zurück. Nach ein paar Minuten lässt er Schendel und seine Freundin allein.
Später dann führt sie hoch aufs Plateau, wo ein kalter Wind an den Kleidern zerrt. Der Rasen sieht aus wie verbrannt, Büsche und eine niedrige Steinmauer fassen ihn in die Form eines Rechtecks. Es ist das Ziel der Sant'Anna-Führung. Schendel sieht aus, als würde er hindurchschauen - durch die Toskana-, die Italien- und die Europaflagge, die im Wind flattern. Und durch den Steinturm ganz vorne, vor dem Hintergrund der Bergrücken der Apuanischen Alpen. Ein Ossarium. Darunter verbergen sich die Knochen der Toten von Sant'Anna.
Pieri läuft geradewegs auf den Turm zu. Doch dann dreht er sich abrupt um und sieht Schendel hinten an der Mauer stehen. Der hat die Schultern angezogen, reibt sich die Arme, es ist kalt, und er schaut auf das Meer hinunter. Pieri sieht ihm zu, ernst.
Schendel bleibt eine Weile stehen, seinen Blick auf die Bergrücken gerichtet, die ihn umzingeln, oder ganz woanders hin. Dann geht er aufrecht an Pieri vorbei zum Ossarium. Seine Gesicht wirkt jetzt hart geschnitten. Kurz davor kommt er ins Wanken und hält sich an einer Mauer fest, bevor er hinter dem Steinturm verschwindet. Pieri dreht sich um und blickt ihm mit großen, traurigen Augen hinterher. Dann kratzt er sich an der Stirn und blinzelt in die Wolken.
Ein Tag später. Ein sanfter Windhauch spielt mit den Blättern der Aprikosenbäume und Rebstöcke in Pieris Garten. Jeden Nachmittag gräbt er hier oben in der Erde, wenn er mit seiner Frau zu Mittag gegessen hat und sie zum Strand gefahren ist. Heute sieht er müde aus. Er lässt sich auf einen Stuhl neben die Werkzeugbank fallen und wischt sich mit einem Lappen über die Stirn.
„Es ist schwierig, ihm das zu sagen, was ich ihm sagen will", erklärt er und winkt ab. „Aber was soll's. Ich hab' schon genug mit ihm geredet." Er räuspert sich. „Gute Beziehungen zu den Deutschen haben wir ja aufgebaut. Zu den Westermanns, die eine neue Orgel für die Dorfkirche gespendet haben. Zu der Unterstützer-Gruppe aus Stuttgart. Aber bei ihm", sagt er, „da darf man nicht daran denken, dass er der Neffe eines dieser SS-Soldaten ist."
Am nächsten Tag treffen Pieri und Schendel noch einmal aufeinander. Rund hundert Gäste, fast alles Jugendliche, sind an diesem Vormittag in das „Teatro Puccini" gekommen, um den Neffen des SS-Soldaten zu sehen. Die Schatten unter Schendels Augen sind tief. Er sitzt auf der Bühne neben neun herausgeputzten Signore und Signori im Hemd, sogar Pieri trägt heute ein Poloshirt. Zwischen Schendel und den Gästen, die das Massaker überlebt haben, steht ein Tisch. „Ich fühle mich geehrt, dass ich heute hier sein darf", sagt Schendel und legt wieder die Hand auf sein Herz. Dann hält er inne und sagt: „Aber wir werden nie wirklich Freunde sein können."
Ein Mann Mitte vierzig in der ersten Reihe schüttelt den Kopf, dann steht er auf und zeigt auf Schendel: „Aber du bist doch überhaupt nicht schuldig", sagt er. „Und wir haben dich eingeladen. Also wenn das nicht Freundschaft ist!" Plötzlich reden die Zuschauer wild durcheinander. Pieri, sein Freund Enio und die Schwestern Pardini starren geradeaus ins Publikum. Schendel macht „Pssst", hebt den Arm. „Als ich Enrico Pieri getroffen habe, hatte ich das Gefühl, er ist der Echte, und ich repräsentiere etwas anderes", sagt er und fügt leise hinzu: „Aber Freundschaft wäre auch zu viel verlangt." Pieri blickt zu Boden, knetet seine Hände.
Viele Jahre hatte er auf diesen Moment gewartet, dass einer nach Sant'Anna kommt, Reue zeigt, ein Zeichen, endlich. Und nun weiß er nicht, damit umzugehen. Zum Abschied gibt er Schendel die Hand.