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Ein Stadt zwischen Angst und Trotz

Paris - Vor einem Jahr haben Terroristen in Paris ein Blutbad angerichtet - an mehreren Orten gleichzeitig. Wie geht das Leben weiter nach diesen grausamen Taten?

„Sie wollten uns unter die Erde bringen, aber sie wussten nicht, dass wir Samen sind." Der handgeschriebene Zettel mit den goldenen Sternen darauf hängt an einem Baum vor dem Restaurant La Belle Equipe im Pariser Osten. Die Pariser setzen dem Terror Poesie entgegen.

Ein Jahr ist es nun her, dass an einem ganz normalen Freitagabend in Paris Männer aus einem schwarzen Seat heraus mit Maschinengewehren auf die Gäste schossen, die vor dem Restaurant saßen. Die Terroristen griffen vier weitere Restaurants und Cafés an. Gleichzeitig drangen drei Terroristen ins Bataclan ein und erschossen während eines Konzerts der Band „Eagles of Death Metal" 90 Menschen. Zuvor hatten sich drei Selbstmordattentäter vor dem Pariser Fußballstadion in die Luft gesprengt. Insgesamt 130 Menschen starben. Es war einer der brutalsten Terroranschläge in Europa.

Ein Jahr nach dem Terror in Paris: Das Bataclan öffnet an diesem Samstag

Ein Jahr später versucht die Stadt den Spagat zwischen Gedenken und Weitermachen: „Wir dürfen uns keine Angst machen lassen, die Terroristen dürfen nicht siegen. Unser freiheitliches Leben muss weitergehen." Das ist die mutige und trotzige Devise der Pariser.

In einem Café im hippen République-Viertel sitzt eine junge Frau. Keine zehn Minuten von den Anschlagsorten entfernt. Sophie Parra, 32, wurde am 13. November 2015 im Bataclan von zwei Kugeln getroffen. Die eine zerfetzte ihren Unterschenkel, die andere steckt heute noch in ihrer Hüfte. „Am Anfang war es schwer, überhaupt aus dem Haus zu gehen", sagt sie - die kleine Frau mit dem Pferdeschwanz und den großen Augen hat Angst. Angst, dass die Terroristen zurückkommen könnten, um ihr Werk zu vollenden. Deshalb hat Parra sich gleich neben den Notausgang gesetzt. Deshalb wandern ihre Augen ständig nach draußen. Kommen sie wieder?

Doch die meisten Pariser denken inzwischen wieder an anderes. Nicht nur am Freitagabend sind die Terrassen der Cafés wieder voll. Freunde, Familien und einsame Denker, die unter den Heizpilzen ihren Apéro trinken und dazu einige Erdnüsse knabbern. Alle fünf betroffenen Cafés haben im Laufe des Jahres wieder eröffnet. Im Café Bonne Bière, wo am 13. November fünf Menschen gestorben sind und acht verletzt wurden, haben sie renoviert und alle Möbel ausgetauscht. „Wir wollten die Narben verschwinden lassen" sagt Audrey Bily, Managerin im Bonne Bière. Aber das Café zu schließen kam nicht in Frage. „Wir wollen weitermachen für unsere Stammgäste. Unser Café war immer ein gemütlicher Treffpunkt im Viertel", sagt Bily, „unsere Gäste unterstützen uns sehr, sie kommen weiterhin und deswegen gibt es uns heute noch." Während manche der Cafés am Jahrestag am Sonntag geschlossen bleiben, bleibt das Bonne Bière geöffnet. Blumen und Kerzen sollen an die Opfer erinnern.

Zum ersten Mal seit den Anschlägen öffnet an diesem Samstag auch das Bataclan wieder seine Tore. Noch bis Ende Oktober war der Konzertsaal hinter einem hohen Bauzaun versteckt gewesen. Wie der Schlund zur Hölle verbargen sich dahinter die schwarze Markise und die schwarzen Tore. Wer vorbeilief, beschleunigte seine Schritte, schaute stur geradeaus. Lieber nicht hinsehen, lieber nicht daran denken.

Ein Jahr nach dem Terror in Paris: Sophie Parra traut sich alleine noch immer nicht in die Metro

Doch hinter den Mauern wurde ein Jahr lang gewerkelt: Viele Architekten und Baufirmen hatten sich gemeldet, um kostenlos bei der Renovierung zu helfen. Die Enthüllung der neuen Fassade Ende Oktober wurde in Paris und den sozialen Netzwerken als Wiederauferstehung bejubelt. Die Passanten halten jetzt kurz inne, nehmen sich einen Moment Zeit zum Nachdenken. An der kleinen Absperrung vor den Toren des Bataclan hängen nun wieder Blumensträuße für die Toten. Einige Touristen fotografieren sich vor dem Schriftzug der Markise, vor den Blumen. Nun wollen die Pariser ihren einstmals für seine gute Stimmung bekannten Konzertsaal wiederbeleben. Sting gibt am Samstagabend ein Benefizkonzert für die Opfer des 13. November. Als der Online-Vorverkauf am vergangenen Dienstagmorgen freigeschaltet wurde, stürzte die Webseite mehr als eine Stunde lang ab, so groß war der Andrang.

„Das ist als würden sie auf Leichen tanzen", sagt Sophie Parra. Sie war damals mit einer Freundin beim Konzert der „Eagles of Death Metal" im Bataclan. Für sie ist es unvorstellbar, je wieder im Bataclan zu feiern. Gerne würde sie vergessen, weitermachen und der Angst nicht nachgeben, sagt Sophie Parra. „Aber so leicht ist das nicht. Was ich im Bataclan erlebt habe, ist jetzt Teil meiner persönlichen Geschichte und ich muss damit leben."

Sophie Parra liebte die Stadt für ihre Größe, ihre Kinos und Konzerte. Doch genau dafür fürchtet sie sich jetzt. Inzwischen traut sich Sophie Parra wieder, alleine Bus zu fahren. Doch in der Métro muss sie jemand begleiten, sonst ist die Angst zu groß.

Die Bedrohung bleibt im Alltag präsent. An den Eingängen der großen Kaufhäuser und Museen stehen Wachmänner mit Metalldetektoren. In den Bürogebäuden hängen Infotafeln mit Ratschlägen, wie man sich im Falle eines Terroranschlags verhalten soll - sich von den Fenstern fernhalten, sich der Polizei mit erhobenen Armen nähern. Von der großen U-Bahn-Station La Défense in Paris bis zum kleinen Volksfest auf dem Land - Soldaten mit Sturmgewehren und in Tarnuniform patrouillieren an besonders gefährdeten Orten. Ein bekanntes Bild aus Israel, doch im Herzen von Europa ist das neu.

Besonders die U-Bahn nehmen viele als gefährlichen Ort war. Die Métro ist morgens und abends gesteckt voll, die Stationen sind eng und unübersichtlich, es stinkt. Mitten im Berufsverkehr die Durchsage: Ein Zug verspätet sich, weil an einer anderen Station ein verdächtiges Gepäckstück gefunden wurde. Sofort ändert sich die Stimmung. Die Leute verkrampfen sich, schauen nervös nach rechts und links. Begutachten das Gepäck der anderen, gehen vielleicht zwei, drei Schritte weiter nach rechts. Die meisten denken nicht ständig an die Terrorgefahr. Aber in diesen Momenten ist die Angst sofort wieder präsent.

Das Motto der Pariser: „Das Boot schwankt, aber es sinkt nicht."

Dominik Gruber, ein gebürtiger Regensburger, der seit vielen Jahren in Paris lebt, war vor einem Jahr im Stadion, als vor dessen Toren die Sprengstoffgürtel explodierten. Auch ihm ist die U-Bahn unheimlich. „Ich gebe zu, dass ich in der Métro um mich schaue, ob da jemand irgendwie auffällig ist. Ob jemand schwitzt oder komisch reagiert. Ob er eine dicke Jacke anhat, unter der ein Sprengstoffgürtel versteckt sein könnte." Seit seinen Erlebnissen im Stadion gehe er „null Risiko" ein: „Ich vermeide jede Menschenansammlung."

Trotzdem: Am Freitag- und Samstagabend ist die Métro voll mit jungen Leuten, die Wein aus Plastikbechern trinken, auf dem Weg zur nächsten Party. Vor dem Centre Pompidou bewundern die Passanten wieder Straßenkünstler und sorgen sich eher wegen der Taschendiebe als wegen der Terroristen.

Sophie Parra sagt: „Ich hätte nie gedacht, dass ich je wieder aus meinem Bett aufstehen kann." Doch heute geht sie wieder arbeiten, wieder ins Kino, auch ins Café. Sie sagt: „Ich kann sogar wieder lachen." Um auszudrücken, wie die Stadt die Anschläge überstanden hat, haben viele Pariser, darunter auch die Bürgermeisterin Anne Hidalgo, das uralte Motto ihrer Stadt wiederbelebt: „Das Boot schwankt, aber es sinkt nicht."

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