Josephine Andreoli

Journalistin, Redakteurin, Hamburg

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Artikel

Raus aus dem Alltag - Ferienlager für Erwachsene!

Einfach mal wieder Kind sein – ganz ohne Smartphone und Alltagsstress. Das ist das Versprechen, das Start-up-Gründerin Maike Engel den Teilnehmern vom Camp Breakout gibt.

Von Josephine Andreoli

Pocahontas, Freisinn und Arielle stehen am Rande einer grünen Wiese. Ein Schritt noch, dann lassen sie die „Außenwelt“ hinter sich. Für drei Tage, immerhin. Pocahontas, Freisinn und Arielle, die eigentlich Jasmin Scherer (31), Sophia Dietz (30) und Georgia Krause (23) heißen, sind Teilnehmer vom Camp Breakout, einem Ferienlager für Erwachsene. 

Mehr als 570 Kilometer und knapp sechs Stunden Autofahrt von der Nähe von Frankfurt bis nach Süsel haben die drei Kolleginnen auf sich genommen, um zu tun, was im Arbeitsalltag oft kritisch beäugt wird: Verantwortung ablegen, Kind sein – und vor allem: nicht erreichbar sein.


„Willkommen im Ferienlager für Erwachsene“ steht in geschwungenen Lettern mit bunten Blümchen verziert auf einer Tafel direkt am Empfang. „Schön, dass ihr da seid“, begrüßt Sunny alias Sandra Dorschner die Dreiergruppe. Sunny ist eine Betreuerin im Camp. Sie markiert die Schleuse in das Camp – von der „Außenwelt“. So nennen die Camp-Betreiber die Welt fernab des Ferienlagers. 


Ziel des Camps: Verantwortung ablegen, Akku aufladen

Dann heißt es Abschied nehmen: Erst vom Smartphone, dann von der eigenen Identität – zumindest einem Teil davon. Denn der richtige Name und das Gespräch über den Job sind im Camp tabu. „Ich muss noch ganz kurz telefonieren und ein paar Nachrichten beantworten“, sagt Pocahontas. Sie umklammert ihr Smartphone mit beiden Händen. „Na klar, das eilt nicht.“ Sunny wischt ihre Bedenken beiseite. Das Unbehagen der Teilnehmer, das Handy abschalten und für das Wochenende in den Tiefen der Taschen verschwinden lassen zu müssen, ist sie gewohnt. „Gerade am Anfang fällt das vielen schwer. Im Nachhinein stellen die meisten aber fest, dass sie ihr Handy gar nicht vermissen.“


Das Smartphone kommt weg

Um 18.52 Uhr ist auch der letzte der 32 Camp-Teilnehmer eingetroffen. Sunny hat mittlerweile 32 Handys eingetütet. Die Betreuer zeigen den Teilnehmern ihr Zuhause für die nächsten drei Tage: rot angepinselte Holzhütten mit spitz zulaufenden Dächern, sechs Betten, sechs Regalen, orange-gelb gemusterten Gardinen und himmelblauen Fensterrahmen. Eine Hütte, die die Teilnehmer sich mit fünf fremden Menschen teilen.
 

Die Hemmungen sind anfangs groß

Es ist wie damals im Ferienlager. Nur die Ausgangslage ist eine andere: Während man als Kind ohne darüber nachzudenken sofort mit den anderen zu spielen begonnen hat, stehen die Teilnehmer nun in Zweier- und Dreiergruppen beisammen. Die Unterhaltungen verlaufen schleppend. Die Hemmungen sind groß – man kennt sich ja noch nicht, und über den Beruf sprechen darf man nicht. Kein Smartphone in Reichweite, auf das die Teilnehmer als rettenden Anker hätten starren können. Nur sie selbst unter fremden Menschen. Verlegenes Lachen hier und da. 


Maike Engel, Gründerin des Camps, erlöst die Teilnehmer: „Ich heiße Häuptling.“ Zusammen mit den Betreuern erklärt sie, was für das Wochenende auf dem Programm steht: Kanufahren, Bogenschießen, Lagerfeuer, Schwimmen, Basteln, Qi Gong, Nachtwanderungen, Freundschaftsbänder flechten – für jeden ist etwas Passendes dabei. Aber, betont Häuptling: „Alles kann, nichts muss. Ihr könnt hier auch einfach chillen.“

 

Alle sind gleich – ganz egal, was sie beruflich machen

Schnell stellt sich heraus: Menschen kennenzulernen, ohne über den Job zu sprechen, ist gar nicht so einfach. „Ronja Räubertochter hat mich gefragt, was meine Hobbys sind“, erzählt Pocahontas. „Klar, da kann man noch was drauf antworten, aber wenn man nicht über den Job reden darf, fällt schon ein Großteil weg. Man definiert sich darüber.“ 

Doch als Ronja später in großer Runde wissen will, wer von den Teilnehmern Pädagoge sei, grölt die Truppe empört los. „Genau dieses Schubladendenken wollen wir vermeiden“, betont Häuptling. „Die Leute begegnen sich ganz anders, wenn sie nicht wissen, was der andere beruflich macht. Hier gibt es nicht dieses Gerede: Wer bist du? Was kannst du? Man hat ja immer gleich ein konkretes Bild vor Augen. Das wird schnell diskriminierend.“


Realität rückt in den Hintergrund

Vorstellungsrunde: Statt mit seinem eigenen Namen und Beruf stellt sich jeder mit seinem Camp-Namen und einem dazu passenden Beruf vor. Es geht reihum, Betreuerin Sunny fängt an: Sie ist Sonnenstrahleneinfängerin. Eine Teilnehmerin ist Pferdefurzzählerin, ein anderer Straßenlaternenanzünder, Chaotenförderer, Nasenhaarzieher. Pocahontas ist Pinguinzüchterin. Unter Kichern stellen sich alle 32 Camp-Teilnehmer sowie die zehn Betreuer vor. Die anfängliche Schüchternheit der Teilnehmer fällt langsam ab: Sie lernen sich kennen, lachen und albern zusammen rum, nehmen sich gegenseitig auf die Schippe. Die Teilnehmer sind wieder ein bisschen Kind. Abschalten. Akku aufladen. 

Wieder ein bisschen Kind sein

Am Vormittag sitzt Pocahontas auf ihrem Bett in der Holzhütte. Schon als Jugendliche hat sie einen Großteil ihrer Ferien im Zeltlager verbracht: „Ich wollte einfach mal wieder ein bisschen Kind sein.“ Doch auch die digitale Entgiftung spielt für sie eine große Rolle. „Auf einer Postkarte, die hier im Camp ausliegt, kann man seine digitale Sucht testen. Ich musste fünf von fünf Fragen bejahen, bin also voll abhängig, was eigentlich echt traurig ist.“ Der Gedanke an eine Auszeit von ihrem Leben inklusive digitaler Entgiftungskur war ihr nicht mehr aus dem Kopf gegangen, seit sie einen Videobeitrag über das Camp gesehen hatte. „Mir ist auch bei meinen Freunden aufgefallen, wie viel die alle am Handy hängen.“


Ganz leicht fällt ihr die Umstellung aber dennoch nicht: „Ich habe am Freitag die ganze Zeit mein Handy gesucht. Dabei habe ich es extra tief in der Tasche versteckt, damit ich die Tüte auch ja nicht öffne.“ Pocahontas greift in ihren Rucksack, wühlt kurz darin. Sie befördert eine kleine Umhängetasche hervor. Darin ist sie, die braune Papiertüte mit ihrem Handy. Ein Stückchen Freiheit, ein Stückchen Außenwelt. Sie betrachtet die Tüte in ihrer Hand. Stopft sie zurück in die Umhängetasche, in den Rucksack. „Ich mache die Tüte nicht auf.“ Pocahontas lacht. 


Erinnerungen konservieren – ganz ohne Smartphone

Nachmittag, der Himmel ist bedeckt. Pocahontas wirft mit Klötzen, sie spielt Wikingerschach. Für einen Moment hat sie auch das Handy wieder vergessen. „Hier gibt es einfach so viel zu entdecken, da ist es gar nicht mal so schlimm, dass ich mal nicht ans Handy kann.“ In den Campingstühlen neben ihr liegen einige Teilnehmer, blättern in der Bravo, trinken Kaffee und unterhalten sich über Gott und die Welt.


Gleich neben dem Eingang zum Essenssaal stehen zwei große Weidenkörbe, bis oben hin vollgefüllt mit Spielzeugen: Tischtennisschlägern, Seifenblasenpistolen, Krocketschlägern, Bällen, Springseilen. Auf dem Tisch daneben liegt eine analoge Sofortbildkamera, um Erinnerungen zu konservieren. Und Momente festzuhalten – ganz ohne Smartphone. 


Die Wolken sind verpufft, der Himmel ist wieder blau. Arielle läuft im Hopserlauf zu einem der Körbe, greift sich die Seifenblasenpistole und sprintet Freisinn nach. Arielle zielt auf Freisinn und drückt ab: Hunderte glitzernde Seifenblasen entspringen ihrer Pistole und schwirren durch die Luft. Arielle lacht, springt, dreht sich. 48 Stunden lang können sich die Teilnehmer die Zeit nach Lust und Laune vertreiben. 


Zwei Tage später ist von der schüchternen Truppe von Freitag nichts mehr zu erkennen. „Die haben ihre Insider-Sprüche, da komm ich nicht mehr mit“, winkt Häuptling ab. „Die verstehen sich alle so gut. Das ist echt schön zu sehen.“


Rückkehr in den Alltag 

Montag, 11 Uhr, Tüte aufmachen – so lautet die Regel im Camp. Die Teilnehmer sitzen in dem halbrunden, gepflasterten Amphitheater gleich neben dem Haupthaus des Camps. Pocahontas lässt die braune Papiertüte von einer Hand in die andere wandern. Sie zählt die Minuten, Sekunden. Sie wartet, bis es endlich 11 Uhr wird. „Ich glaube, mein Handy bricht gleich erst einmal in Chaos aus.“ 


Mit dem Öffnen der kleinen braunen Papiertüte ist die Auszeit vorbei. Smartphone an, zurück in die Realität – in die Außenwelt. Häuptling steht auf. Alle Blicke richten sich auf sie. Dann gibt sie das Kommando: Es ratscht, es reißt. 


Die Camp-Teilnehmer fischen ihre Smartphones aus den Papiertüten. Pocahontas wirkt nervös. Mit einer fahrigen Bewegung zieht sie das Smartphone aus der Tüte. Einmal, zweimal streicht sie mit dem Daumen über das Display. Sie schaltet das Handy ein. Ihr Blick streift kurz die anderen Teilnehmer. Sie beißt sich auf die Zunge. Sie wartet. Und wartet. Endlich leuchtet das Display ihres Handys auf: 75 Whats-App-Nachrichten, zehn Mails. Das Smartphone schaltet sich wieder aus. Der Akku ist leer.


Interview zum Thema: „Spiel lässt Dinge zu, die man im Alltag nicht ausleben kann“ – Autor und Berater für Familien und pädagogisches Fachpersonal erklärt, was so eine Auszeit bringen kann


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