Josephine Andreoli

Journalistin, Redakteurin, Hamburg

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Artikel

„Wenn Männer Kinder bekommen könnten, wäre die Situation eine andere"

Die Allgemeinmedizinerin Kristina Hänel wurde zur Vorkämpferin gegen Paragraph 219a. Im LN-Interview schildert die Ärztin, wie sie mit der Feindseligkeit der Abtreibungsgegner umgeht und warum die Gesetzeslage anders wäre, wenn Männer auch Kinder bekommen könnten.


Von Josephine Andreoli und Sven Wehde


Im Museum für Natur und Umwelt war eine ganz besondere Autorin zu Gast. Von den einen wird sie für ihren Einsatz gefeiert, von den anderen wird sie heftig kritisiert – die Gießener Allgemeinmedizinerin Kristina Hänel. Bekanntheit erlangte sie, da sie wegen Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft angeklagt und zu einer Geldstrafe von 6000 Euro verurteilt wurde. 

In Lübeck las die Medizinerin aus ihrem Buch „Das Politische ist persönlich: Tagebuch einer ,Abtreibungsärztin’“. Darin erzählt sie von ihrem Versuch, für das Recht der Frauen auf Informationen bezüglich des Schwangerschaftsabbruchs einzustehen und berichtet von den Folgen ihres Handelns. 


Frau Hänel, Kritiker sagen, Sie seien „eine staatlich geduldete Kindesmörderin“. Was löst das in Ihnen aus?


Das tut immer weh. Immer. Ich versuche, solche Beiträge gar nicht erst zu lesen. Das ist Hetze. Dass ich mich schlecht fühle, ist ja aber genau das, was die sogenannten Lebensschützer und Abtreibungsgegner erreichen wollen. Wenn der Papst mich eine Auftragsmörderin nennt, tut das weh. Dann kommen mir schon manchmal Gedanken, dass wenn ich ein paar Jahrhunderte früher gelebt hätte, ich wohl für vogelfrei erklärt worden wäre. Es hat mal jemand diesen schönen Satz gesagt, den ich versuche, mir zu Herzen zu nehmen: Wenn wir unsere Feinde hassen, geben wir ihnen sehr viel Macht über unseren Körper, über unsere Gedanken, über unseren Schlaf. Und diese Macht will ich denen nicht geben.


„Die Lebensschützer schützen kein einziges Leben“

Den Abtreibungsgegnern geht es doch aber weniger um Sie, als aus ihrer Sicht darum, das Leben ungeborener Kinder zu schützen. Ist es nicht das Recht von Menschen, auch eine kritische Position gegenüber Schwangerschaftsabbrüchen zu vertreten?


Ja, natürlich. Jeder Mensch darf ja seine eigene Meinung haben. Die sogenannten Lebensschützer schützen aber kein einziges Leben – sie gefährden dagegen das Leben der Frauen und ihre Gesundheit. Die Studienlage sagt eindeutig, dass ungeborenes Leben nicht durch restriktive Gesetze zu schützen ist, sondern durch eine kinderfreundliche Gesellschaft, Zugang zu Verhütungsmitteln und eben auch Zugang zu sicheren Abbrüchen. Das sagt auch die Weltgesundheitsorganisation. Im Übrigen habe ich schon bei vielen Menschen Abbrüche gemacht, die sich zu den sogenannten Lebensschützern zählen. Als diese selbst betroffen waren, haben sie also ganz anders entschieden, als sie vorher argumentiert haben. 


Im Jahr 2017 wurden Sie durch das Amtsgericht Gießen zu einer Geldstrafe von 6000 Euro verurteilt. Sie hätten diese Strafe vermutlich mildern können, hätten Sie das Wort „Schwangerschaftsabbruch“ und die dazugehörigen Informationen von Ihrer Homepage genommen. Warum haben Sie das nicht getan?


Zu dem Zeitpunkt hatte ich mich schon dazu entschieden, dass sich jemand gegen die Abtreibungsgegner wehren muss. Ich habe mir diese Rolle nicht ausgesucht. Aber die Situation ist nun mal über mich öffentlich geworden, und jetzt muss ich für die Rechte der Frauen kämpfen. Ich breche das Schweigen, ich breche das Tabu, weil das so einfach nicht mehr weitergehen kann. Diese Lebensschützer haben schon viele, viele Ärzte angezeigt, was dazu geführt hat, dass immer mehr Ärzte Informationen zu Schwangerschaftsabbrüchen von ihrer Seite genommen haben. Ich selber halte es aber für meine Pflicht, Frauen über ihre Möglichkeiten aufzuklären. Und ich kann einfach nicht verstehen, warum das Unrecht sein soll. 


„Niemand von uns Ärzten hat geworben, das ist völlig absurd!“

Den Gesetzgebern geht es mit dem Erhalt von Paragraf 219a, also dem Verbot der Werbung für den Schwangerschaftsabbruch, darum, keinen Markt für Schwangerschaftsabbrüche entstehen zu lassen. Ist das für Sie nicht nachvollziehbar?


Nein, das ist für mich nicht nachvollziehbar. Der Gesetzgeber verbietet ja die sachlichen und seriösen Informationen zum Schwangerschaftsabbruch. Es geht ja nicht um „Werbung“, wie der Titel des Paragrafen 219a vermuten ließe. Niemand von uns Ärztinnen und Ärzten hat geworben, das ist ja völlig absurd! Es ist auch absurd, Frauen zu unterstellen, sie würden sich aufgrund von Informationen zu einem Abbruch „werben“ lassen. Die Frauen der Nordkirche haben das in ihrer Stellungnahme sehr gut formuliert, wie tief verletzend diese Unterstellung ist. Die Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch ist immer ein sehr schwieriger Prozess, den Frauen niemals mit Leichtfertigkeit durchlaufen. 


Ausgelöst durch Ihren Fall gibt es eine Ergänzung des Gesetzestextes: Der Paragraf 219a und damit das Werbeverbot bleiben, doch Ärzte sollen zukünftig auf Ihrer Website angeben dürfen, dass sie Schwangerschaftsabbrüche vornehmen. Ist das für Sie ein Sieg oder zumindest ein Kompromiss?


Nein, es ist ein klitzekleiner Schritt nach vorne. Aber die inhaltlichen Informationen, die ja wir Fachleute am besten geben können, bleiben ja nach wie vor verboten. Frauen werden dadurch entmündigt, ihnen werden Informationen vorenthalten. Und Informationsrecht ist ein Menschenrecht. 


Können Sie nachvollziehen, wenn andere Ärzte sagen, dass sie keine Schwangerschaftsabbrüche vornehmen möchten?


Das kann ich gut verstehen, und das nehme ich auch niemandem übel. Es ist natürlich sehr schade. Ich bin froh über jeden, der da mitmacht. Frauen brauchen eine korrekte medizinische Versorgung. Aber wenn Ärzte nach Anzeigen und Bedrohungen so reagieren, kann ich das schon verstehen. 


Vielleicht gibt es auch Ärzte, die aus ethischer Überzeugung keine Schwangerschaftsabbrüche vornehmen. Wenn dem so ist – können Sie auch das nachvollziehen?


Die ärztliche Berufsordnung sagt, dass kein Arzt gegen sein Gewissen gezwungen werden kann, einen Schwangerschaftsabbruch durchzuführen oder ihn zu unterlassen. Für mich persönlich ist es eine Frage des Gewissens, Frauen eine adäquate Hilfe nicht zu verweigern, auch nicht bei einem Schwangerschaftsabbruch. 


In Frankfurt halten Abtreibungsgegner 40 Tage lange Mahnwachen ab. Seit Kurzem stehen die Abtreibungsgegner auch vor Ihrer Praxis in Gießen. Was genau passiert da?


Die kommen mittlerweile einmal im Monat und stellen sich gegenüber dem Eingang meiner Praxis auf, wo sie beten und diese furchtbaren Bilder von Babys hochhalten. Für uns ist das immer sehr schwierig, das bringt viel Unruhe in die Praxis. Die Frauen möchten ja nicht, dass irgendwer mitbekommt, dass sie abtreiben. Und wenn sie dann diesen Aufmarsch mitbekommen, ist das ganz fürchterlich für sie. 


„Es sind vermehrt Männer, die Abbrüche verhindern wollen“

Und wie stehen Sie zu denen, die auf die Straße gehen um gegen Schwangerschaftsabbrüche zu demonstrieren und diese als das Beenden des ungeborenen Lebens bezeichnen?


Ein Beenden des ungeborenen Lebens ist es ja – warum sollte man es also nicht so nennen? Aber dass man dagegen auf die Straße geht, und Frauen diesen Weg verwehren will, das kann ich nicht verstehen. Das ist eine Ideologie und hat für mich nichts mit der Realität zu tun. Und vor allem sind es vermehrt Männer, die die Abbrüche verhindern wollen.


Sie bezeichnen die Überzeugung Ihrer Gegner als realitätsferne Ideologie. Begegnen Sie ihnen damit nicht in einer ebenso kompromisslosen Haltung wie diese Ihnen?


Im Gegensatz zu den sogenannten Abtreibungsgegnern spreche ich aus Erfahrung. Ich bin Naturwissenschaftlerin, Ärztin. Ich arbeite seit Jahrzehnten mit traumatisierten Kindern, habe im Rettungsdienst viel erlebt. Ich spreche ja nur über die Menschen, die zu mir kommen. Und ich setze mich dafür ein, dass Frauen nicht mehr wie früher mit ihrer Gesundheit oder ihrem Leben dafür bezahlen müssen, dass sie ungewollt schwanger geworden sind. Nicht mehr und nicht weniger. Das ist nicht ideologisch. Das ist mein Beruf. 


„Wir haben noch immer keine wirkliche Gleichstellung erreicht“

Wenn Männer schwanger werden könnten – wäre die Situation eine andere?


Ja. Männer bestimmen nun einmal über die Welt, immer noch – an ganz vielen Stellen. Wir haben noch immer keine wirkliche Gleichstellung erreicht. Wenn Männer schwanger werden könnten, würden sie sich ganz andere Rechte schaffen. Die würden es ja niemals zulassen, dass man so über ihren Körper bestimmt. 


Im Umkehrschluss bestimmen nach Ihrer Ansicht also derzeit Männer über den Körper der Frauen. Aber dürfen nicht auch Männer eine Haltung zu dem Thema haben? Es geht ja auch um ihre Kinder. 


Natürlich dürfen Männer eine Meinung und einen eigenen Kinderwunsch haben. In der Realität entscheidet ja auch oft das Paar über den Ausgang der Schwangerschaft. Es ist aber häufiger der Mann, der kein Kind möchte oder nicht zu der Beziehung steht. Und das ist dann häufig auch der Grund für einen Abbruch. 


Wie häufig kommen Frauen mit einem Wunsch eines Schwangerschaftsabbruch zu Ihnen in die Praxis?


Dadurch, dass ich die einzige im Umkreis bin – die Frauen fahren ja zum Teil 150, 200 Kilometer zur nächsten Ärztin, die Schwangerschaftsabbrüche vornimmt – sind es halt relativ viele. Und seit ich in der Öffentlichkeit stehe, sind es auch sehr viel mehr Frauen geworden. Wenn jeder Arzt Abbrüche vornehmen würde, wären es sehr viel weniger. Vielleicht so ein Abbruch die Woche? Wenn man sich aber vorstellt, dass in Deutschland jede vierte Frau und weltweit jede zweite Frau einmal im Leben einen Schwangerschaftsabbruch hat und man sich vor Augen führt, dass es der häufigste chirurgische Eingriff in der Gynäkologie ist, dann hat man eine ungefähre Vorstellung von der Höhe dieser Zahl. Ein Abbruch kommt häufiger vor, als man glaubt. Aber da es ein Tabuthema ist und keiner darüber spricht, erschrickt man ganz schön, wenn man diese Zahlen hört. 


In welchem Fall würden Sie einer Frau zu einem Abbruch raten?


Das würde ich nie tun. Bevor eine Frau zu mir kommt, war sie ja schon in der Beratung, wo über ihre Lebenssituation, finanzielle Hilfe und die Ambivalenz, also die innere Zerrissenheit, gesprochen wurde. Wenn die Frauen zu mir kommen, haben sie eine Entscheidung getroffen. Aber ich rate nie zu einem Abbruch. Das geht ja auch gar nicht, es geht ja um das Leben der Frau und nicht um meines. Sie muss wissen, dass ihre Entscheidung endgültig ist, und sie muss sich sicher sein, dass sie auch in 20 Jahren noch sagen kann, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hat. Wenn ich spüre, dass die Frau in ihrer Entscheidung nicht sicher ist, schicke ich sie noch einmal weg. Solange mache ich keinen Abbruch. Da bin ich sehr streng. Tatsächlich entscheiden sich viele auch noch mal um, dann bekomme ich immer ein Foto vom Baby geschickt, was mich sehr freut. 


Angenommen, eine Frau ließe einen Schwangerschaftsabbruch durchführen. Wie groß sind die Risiken bei einer (gewollten) Folgeschwangerschaft?


Es gibt ein gewisses Infektionsrisiko, und wenn man diese Infektion dann nicht behandelt, kann die Frau unfruchtbar werden, weil zum Beispiel die Eileiter verkleben. Das kommt aber vor allem bei verpfuschten Abbrüchen vor. Wenn ein Abbruch legal und sauber gemacht wird, ist das Risiko für eine Infektion ganz gering. Die Zahl der Frauen, die aufgrund dessen unfruchtbar werden, liegt weit unter einem Prozent. Ob es ein erhöhtes Risiko für Fehlgeburten gibt, ist hoch umstritten, ob es überhaupt stimmt. Ganz eventuell kann es auch bei einem legalen Abbruch zu Mikroverletzungen in der Gebärmutter kommen, aber auch die machen eine Frau nicht gleich unfruchtbar. Die Risiken sind also ganz gering. 


Frau Hänel, vielen Dank für das Gespräch.

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