Josephine Andreoli

Journalistin, Redakteurin, Hamburg

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Artikel

Corona-Patient: Wie Winfried Meyer sich zurück ins Leben kämpft

Ende März erkrankt Winfried Meyer an Corona – acht Wochen liegt er im Koma. Eine Standard-Therapie für Patienten wie ihn gibt es nicht. In der pneumologischen Frühreha in Großhansdorf versuchen Ärzte, ihm einen Weg zurück ins Leben zu ebnen.

Großhansdorf. Es sind kleine, weiße Wölkchen, die für Winfried Meyer alles verändert haben: Entzündungen in den Lungenflügeln, sogenannte Lungeninfiltrate. Diese Wölkchen haben ihm den Atem geraubt – und beinahe auch sein Leben.

Als Meyer am 3. April in das Klinikum Calw-Nagold, eine knappe Autostunde entfernt von Stuttgart eingeliefert wird, steht die Diagnose schnell fest: Covid-19. Kaum ins Krankenhaus eingeliefert, verschlechtert sich Meyers Zustand dramatisch. Die Sauerstoffsättigung – zu niedrig. Das Fieber – zu hoch. Nach zwei Tagen auf der Normalstation muss Meyer auf die Intensivstation verlegt werden. Und invasiv beatmet werden.


Wochenlang bangen Ärzte und Familie um Meyers Leben


Es steht nicht gut um Winfried Meyer. Er wird ins künstliche Koma versetzt, in Bauchlage beatmet. Acht Wochen lang kämpfen die Ärzte um sein Leben, bereiten die Familie auf das Schlimmste vor. Auf die neuartige Lungenkrankheit Covid-19 folgt ein bakterieller Infekt, dann eine Lungenentzündung. Die Ärzte sprechen von einer sogenannten „Superinfektion“. Lange Zeit sieht es nicht gut aus für ihn.


Mitte Mai schließlich stabilisiert sich Meyers Zustand. Aus dem Klinikum am Schwarzwald wird er, noch immer im künstlichen Koma liegend, mit dem Helikopter in die pneumologische Frührehabilitation der Lungen Clinic in Großhansdorf verlegt, die sich auf Lungenkrankheiten spezialisiert hat. Zwar hat man hier seit Ausbruch des Coronavirus schon einige wenige Covid-19-Patienten behandelt, die die Krankheit überstanden haben. Und dennoch – die Situation ist neu, auch für die Ärzte. Es ist Learning by Doing.


Mit seinen Vorerkrankungen zählt Meyer zur Risikogruppe


Winfried Meyer, 60 Jahre alt, war eigentlich zur Kur im Schwarzwald. Das war Ende März. Höchstens eine Woche war er in der Reha, da bekam er Fieber und wurde isoliert. Ein anderer Patient aus der Reha-Klinik hatte sich mit dem Coronavirus infiziert, aber noch mit den anderen Patienten gemeinsam im Speisesaal gegessen. Meyer, der an Diabetes, Bluthochdruck und Übergewicht leidet, steckt sich an, kommt ins Krankenhaus. „Was dann passiert ist, daran kann ich mich gar nicht erinnern, das ist alles verschwommen.“ Er weiß noch, dass er seine Frau Anja anrief, ihr sagte, dass er ins künstliche Koma versetzt würde. „Dass ich am Abend davor meine vier Kinder angerufen habe, daran konnte ich mich gar nicht mehr erinnern.“

Vom 6. April bis zum 23. Mai liegt Meyer im Koma, da ist er längst coronafrei. Dass er vom Schwarzwald nach Schleswig-Holstein verlegt wurde, hat er nicht mitbekommen. „Ich habe viel geträumt“, erzählt Meyer. „Da war ein gelber Durchgang, eine quadratische Tür, durch die ich hindurchgetragen wurde.“ Meyer vermutet, dass es sich dabei um den Hubschrauber handelt, mit dem er nach Großhansdorf geflogen wurde.


Halb wach, halb schlafend im Brausebrand


Ende Mai hat sich Meyers Zustand so weit stabilisiert, dass die Ärzte beschließen, ihn aus dem künstlichen Koma zu holen. Weil Leber und Niere die Medikamente, die zur Sedierung eingesetzt werden, vollständig abbauen müssen, dauert es 24 Stunden, bis er wach ist. Für die Patienten ist das kein einfacher Zustand – sie sind halb wach, halb schlafend. „Die Patienten wissen in diesem Zustand oft nicht, was real ist und was ein Traum“, sagt Dr. Maike Oldigs, Oberärztin der Pneumologie. „Im Brausebrand reißen sich manche Patienten den Blasenkatheter raus, wollen auf einem Mal nach Hause – da kann Furchtbares passieren.“ In der Fachsprache wird dieses Phänomen auch als Delir bezeichnet. Dabei handelt es sich um einen Zustand der Verwirrung, den Betroffene oft als Albträume wahrnehmen.


„Sie reden wie auf eine kranke Kuh ein“, so Oldigs. „Immer und immer wieder haben wir gesagt: ,Herr Meyer, es ist alles in Ordnung. Sie liegen im Krankenhaus und wachen gerade aus dem Koma auf. Sie können nicht sprechen, aber es ist alles in Ordnung.’“ Mithilfe von Kopfschütteln, nicken, Augenzwinkern und Händedrücken haben die Ärzte in dieser Zeit mit Meyer kommuniziert. Zehn Tage dauert es, bis Meyer von der Beatmungsmaschine genommen werden kann. „Die Entwöhnung ist eine heikle Phase“, sagt Oldigs. „Es gibt dann zwischendurch mal Phasen der Spontanatmung, das können zu Anfang fünf Minuten sein, danach ist der Patient sehr erschöpft. Und das muss man dann tagtäglich wiederholen.“ Den Zustand der Spontanatmung, also die normale Atmung, wieder dauerhaft zu erreichen ist dabei das Ziel.


Einatmen, ausatmen – nur mit großer Anstrengung


Einatmen, ausatmen, noch einmal. Was einfach klingt, ist für Winfried Meyer mit großen Anstrengungen verbunden. Über Wochen wurde er über einen Luftröhrenschnitt mithilfe einer Kanüle künstlich beatmet. Jetzt soll er selbst das Atmen wieder übernehmen. Einatmen, ausatmen, noch einmal. „Endlich hat es dann besser funktioniert, so dass die Ärzte die Kanüle entfernt haben“, sagt Meyer. Allerdings nicht ohne die sogenannte „Reiserücktrittsversicherung“ – einen kleinen Plastikstöpsel, der bis zu 72 Stunden als Platzhalter für die Kanüle dient. Falls es zu Problemen bei der Spontanatmung kommen sollte. Falls der Patient doch noch einmal invasiv beatmet werden muss. Meyer hat Glück. Er übersteht die 72 kritischen Stunden. „Ich bin so glücklich, dass ich keinen Sauerstoff mehr brauche“, sagt er.


Nach dem Koma: „Ich musste weinen vor Rührung“


Meyer liegt in der fünften Etage, fast am Ende des Ganges links, Zimmer B 5:12. Von seinem Bett aus guckt er auf eine weiße Magnetwand, an der ein Foto der Familie seiner Tochter und eine schlichte Postkarte hängen. „Gott spricht: Ich lasse dich nicht fallen und verlasse dich nicht“, steht darauf in großen Lettern. „Ich bin Christ und ich glaube an Gott“, sagt er. „Und Gott hat mich geheilt. Das, worunter meine Familie gelitten hat, davon habe ich ja nichts mitbekommen – ich lag im Koma und habe geschlafen.“ Ein Freund seines Bruders Gerhard habe ihm ein gesegnetes Öl gegeben, das seine Frau ihm auf die Brust geschmiert hat. Das war kurz vor Pfingsten. „Danach ging es bergauf mit mir. Wunder sind nicht vorgesehen, sie passen nicht in unser Weltbild, und doch ist mir eines geschehen.“

Einen Monat nach dem Koma: Meyer sitzt, in grauem Shirt und schwarzen Boxershorts, auf der Kante seines Bettes. Am Hinterkopf hat er einige kahle Stellen. Seine Haut pellt – hinter den Ohren, im Gesicht, überall. Sein Bauch ist übersät mit dunklen Druckstellen. All das: Nebenwirkungen der Komazeit. „Ich kann mich schon wieder am Ohr kratzen“, sagt er. Meyer strahlt. Noch vor wenigen Tagen war das undenkbar. Seine Muskeln und Sehnen haben sich durch das viele Liegen verkürzt. Rasieren, schreiben, Butter aufs Brot schmieren – nichts funktioniert noch wie vor dem Koma. „Inzwischen kann ich erlauben, dass es die Zeit kostet, die es eben kostet, bis ich wieder funktioniere wie früher.“


„Niemand lässt sich gern den Hintern abwischen“


Wenn er spricht, stellt er seine Zehen auf, rollt auf die Fersen ab. Immer und immer wieder. Mit den Händen streicht er sich über die nackten Oberschenkel. Die Bewegungen sind fahrig, zittrig. All das kostet Kraft. „Im Gehirn sind die Bewegungsabläufe noch da, die muss ich nicht neu lernen. Aber ich muss mit meiner jetzigen eingeschränkten Beweglichkeit alles neu lernen“, sagt er. Nicht immer kann der Körper, wie er will. „Niemand lässt sich gern den Hintern abwischen“, so Meyer. „Aber das muss ich jetzt geschehen lassen. Ich bin in einer hilflosen Situation. Ich kann es nicht allein.“

Seine Hände sind noch immer taub. Wenn er sie bewegt, kribbeln sie wie Hunderte Nadelstiche. Laut Frank Elsholz, Leiter der pneumologischen Frührehabilitation, hängt das mit der Medikamentation auf der Intensivstation zusammen. Um den Körper am Laufen zu halten, bekommt der Patient verschiedenste Medikamente. Das bringt auch Nebenwirkungen wie die Taubheit in den Händen mit sich. Wie lange das Kribbeln anhalten wird, wissen die Ärzte nicht. Es ist der Kampf gegen ein noch unbekanntes Virus. „Was bleibt? Was geht? Das alles wissen wir ja noch gar nicht“, sagt Oldigs.

10 Uhr am Morgen: Meyers Lungenfunktion wird kontrolliert. Eine Schwester nimmt ihm Blut ab, Sauerstoffsättigung: 96 Prozent. Der Wert ist gut, normal ist alles über 93 Prozent. „Yeah“, ruft Meyer laut. Jeder Fortschritt, und ist er noch so klein, zählt.


Ausdehnung der Lunge ist noch eingeschränkt


Arhodula Kratzmann, medizinisch-technische Assistenz (MTA) hilft Meyer, sich für die Bodyplethysmographie auf den Hocker in der geschlossenen gläsernen Kabine zu setzen. Dort sollen Lungenvolumen, Diffusionskapazität, also die Fähigkeit der Lunge zur Sauerstoffaufnahme und Kohlendioxidabgabe, sowie der Atemwegswiderstand gemessen werden.

Die Ausdehnung der Lunge ist noch eingeschränkt. Elsholz vermutet aber, dass sich mit steigender Mobilität auch die Ausdehnungsfähigkeit der Lunge wieder verstärken wird. Aber: Langzeitstudien dazu gibt es noch nicht. „Die Diffusionskapazität ist bei Ihnen sehr gut, fast wie bei einem Lungengesunden“, erklärt Elsholz. „Yeah“, ruft Meyer aus.

Meyer liegt im Bett, seine Hände umklammern die Griffe des Bewegungstrainers, einer Art Handfahrrad. Bloß nicht loslassen. Auch dann nicht, wenn es schmerzt. In den Schultern, in den Armen. „Ich komme nur ans Ziel, wenn ich über meine Schmerzensgrenze hinausgehe“, sagt er. Meyer hustet. Die Bewegung kostet ihn viel Kraft. 4,5 Kilometer zeigt das Gerät an. In 15 Minuten, „Yeah“.


„Wir können nicht alle komplett retten, aber wir sind bestrebt“


Und dennoch: Auf den Bildern der Computertomographie (CT) sind Reste der Entzündung noch immer zu sehen. Da sind sie, die kleinen, weißen Wölkchen. Sogenannte Restinfiltrate. Auch jetzt, Wochen nach der Virusinfektion, sind sie noch klar zu erkennen. Die Wölkchen, in beiden Lungenflügeln und überall, sind typisch für Covid-19. Und überall dort, wo die kleinen Wölkchen zu sehen sind, kommt kein Sauerstoff durch. „Die Entzündungen wirken wie eine Schranke.“

Meyers Lungengerüst ist geschwächt. Gerade einmal 70 Prozent an Lungenleistung weist er auf. „Das muss ausheilen. Und da hilft nur: bewegen, bewegen, bewegen“, sagt Oldigs. „Wenn das besser wird, sehe ich auch gute Chancen, dass er gesund aus der Sache herausgeht – Schritt für Schritt für Schritt“, ergänzt Elsholz. Winfried Meyer kämpft: Gegen die Schmerzen, gegen die verkürzten Muskeln und Sehnen, gegen die Anstrengung. „Wir können nicht alle komplett retten“, sagt Elsholz. „Aber wir sind bestrebt, die Leute aus dem Bett zu holen, denn dort sterben die meisten.“ Meyer steht. Und geht.