Eigentlich könnte der neue Erzählband von Ferdinand von Schirach auch "Kaffee und Zigaretten und Schirach" heißen, denn hinter allen drei Worten verbirgt sich ein erhebliches Suchtpotenzial. Kann man Kaffee und Zigaretten noch halbwegs schmerzfrei beiseitelegen, trifft das auf Schirachs Buch nicht zu. Der ehemalige deutsche Strafverteidiger schafft es wieder einmal, dass man als Leser völlig Raum und Zeit vergisst. Da kann es schon mal vorkommen, dass die Haltestelle verpasst oder die Verabredung vergessen wird. Denn er gibt zum ersten Mal einen sehr persönlichen Einblick in seine eigene Gedanken- und Erlebniswelt.
In 48 Kapiteln, die mal lang, mal kurz, mal laut und aufregend, dann wieder leise und nachdenklich sind, schneidet Schirach ganz unterschiedliche Themen an. Die Erzählungen sind so verschieden, wie man es sich nur vorstellen kann: Mal geht es um eine Verhandlung, dann beschreibt er wieder einen kurzen Moment zwischen Liebenden. Ist alles ausgedacht? Oder sind alle Geschichten wirklich so passiert? Eine Antwort darauf gibt es nicht. Die braucht man aber auch nicht, um in Schirachs Welt einzutauchen.
Der Autor beschreibt beispielsweise, wie Albert Camus eigentlich ums Leben kam. Es war ein Autounfall. Der Schriftsteller hätte eigentlich gar nicht in dem Wagen sitzen sollen. Oder die Geschichte von einem zu Unrecht Verurteilten, dem niemand glaubt. Die Figuren und ihre Erlebnisse, ob ausgedacht oder real, sie wecken Empathie und lassen die Bilder vor dem inneren Auge entstehen. Dabei rückt ihr Wahrheitsgehalt in den Hintergrund.
Blättert man Seite um Seite in die kurzen Augenblicke hinein, gibt es auch viele emotional berührende Momente. Wie etwa die Beschreibung der Einsamkeit eines Jungen, nachdem sein Vater gestorben ist. Schirach wählt seine Worte so genau, dass sie Gänsehaut verursachen.In seinem Internat macht sich der Junge heimlich über eine ganze Flasche Whiskey her, setzt sich mit einem gestohlenen Gewehr unter einen Baum und drückt ab. Es sind Geschichten wie diese, die dem Buch eine nachhallende Tiefe geben.
Immer wieder sind es Abgründe, auf die seine Protagonisten zusteuern - bewusst oder unbewusst. Sie kommen in Situationen, in denen sie sich entscheiden müssen. Wählen sie den vorgezeichneten, einfachen Weg oder riskieren sie alles und werden damit vielleicht umso glücklicher? Und als Leser muss man sich fragen: Was würde ich tun, wenn meine Tage gezählt, meine Verhandlung zu Ende, meine Entscheidungsgewalt nicht mehr vorhanden sind? Zu diesen Gedanken regt "Kaffee und Zigaretten" an.
In eine der Erzählungen lässt Autor Ferdinand von Schirach auch seine eigene familiäre Vergangenheit mit einfließen. Für den "Spiegel" schrieb er einen Essay, in dem er die tatsächliche Geschichte seines Großvaters Baldur von Schirach beschreibt. In seinem neuen Roman thematisiert er inhaltlich Ähnliches und hat damit vielleicht auch für sich selbst einen Weg gefunden, die eigene Geschichte aufzuarbeiten.
Er erklärt nicht zu viel, lässt Fakten auch mal für sich stehen. Gerade durch diesen Kniff ist der Leser seiner Geschichten oft angehalten, nicht gleich weiterzulesen, sondern noch einen Moment über das Gelesene nachzudenken.
Manchmal sind seine kurzen Erzählungen auch schlicht Abbilder des Zeitgeschehens. Diese Anekdoten wollen nichts anderes sein - nur Zeugnisse unserer Zeit. Wie beispielsweise die kurze Erzählung über das Handy-Spiel Pokémon Go, das vor einigen Jahren ein extremer Erfolg war. Auch mit absurdem Zeitgeist beschäftigt sich Schirach.
Der 55-jährige Autor, der als Anwalt im Strafrecht arbeitete, hat vor zehn Jahren sein erstes Buch "Verbrechen" geschrieben. Seitdem hat sich, auch wenn sein Debüt schon sehr erfolgreich war, der Erzählstil Schirachs noch gefestigt. Keine Überraschung also, das sich "Kaffee und Zigaretten" wieder seit Wochen an der Spitze der am häufigsten verkauften Bücher hält.
"Kaffee und Zigaretten" ist unterhaltsam, schnell zu lesen, immer überraschend und oft tiefgründig. Vor allem aber machen die Geschichten einfach großen Spaß. Wie Kaffee und Zigaretten eben.
Quelle: ntv.de
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