Jonas Mayer

Freier Journalist, Reutlingen

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Artikel

Wenn die Bewohner:innen einer Stadt anfangen, sich selbst zu regieren

Pfingstmontag auf der nördlichen Kiellinie, einer Straße entlang der Kieler Förde. Ein kleiner Junge steuert sein feuerrotes Spielzeug-SUV per Fernbedienung den Bordstein entlang. Es ist an diesem Tag das einzige Fahrzeug auf 4 Rädern dort. Die Kiellinie ist für einen Tag autofrei und der Asphalt auf Hunderten Metern mit bunten Zeichnungen und Slogans bedeckt. Es sind vor allem Studierende, die alle paar Meter auf dem Boden knien und mit Straßenkreide Kunst und politisch Kante zeigen. »Graue Grütze auf die Mütze«, schreiben sie etwa, oder »Kein Bock auf Lautos«. Und tatsächlich ist es allein mit dem Gemurmel der Passant:innen und dem leichtem Wind von der Ostsee her angenehm ruhig.


Ganz anders als die Diskussion, die Kiellinie permanent autofrei zu machen. Sie wird in der Stadt schon seit Jahren lebhaft geführt und steht stellvertretend für zahllose Konflikte rund um die Mobilitätswende. Um alle Meinungen ernst zu nehmen und trotzdem voranzukommen, läuft unter dem Namen Kiel 2042 seit anderthalb Jahren eine Bürger:innenbeteiligung im Großformat. Es geht um die Frage, wie sich die Kieler:innen ihre Stadt für das Jahr 2042 wünschen, dann wird die Landeshauptstadt an der Ostsee 800 Jahre alt.

Was soll bis dahin räumlich passieren? Wie soll sich der Alltag anfühlen? Welches Bild soll Kiel nach außen abgeben? Solche Fragen hat die Stadt ihren Bewohner:innen im »Zukunftsdialog« auf einer Auftaktkonferenz, an öffentlichen Plätzen, mit Beteiligungskits für daheim und in Onlineformaten gestellt. Geschätzte 2.000 Bürger:innen haben bisher aktiv mitgemacht. Das geplante Jugendparlament und die Abschlusskonferenz verzögern sich durch die Coronapandemie allerdings immer weiter.


»Es ist gerade schwierig, ins Übermorgen zu denken«, meint Niklas Reinert aus der Geschäftsführung von Kiel 2042. Dabei sei die Frage nach dem guten Leben in der Stadt jetzt noch wichtiger als je zuvor, etwa bei der Struktur der Gesundheitsversorgung oder der Größe von Wohnflächen. Deshalb hofft Reinert, dass Kiel 2042 bald wieder den Schwung bekommt, den es zu Beginn entwickelt hatte. Überregional hat der bisherige Erfolg schon Aufmerksamkeit erregt. Aus vielen Kommunen sind Nachfragen zum sogenannten Beteiligungskit gekommen. Das ist ein großer Briefumschlag mit Fragen, Aufgaben, einem Stadtplan, bunten Klebepunkten und viel Platz für Ideen aus einer Gruppe oder von Einzelpersonen.


Tatsächlich ist Kiel mit seinem Ansatz der Bürger:innenbeteiligung nicht allein. Aktuell läuft zum Beispiel auch das Programm Lüneburg 2030. Prozesse mit dieser Jahreszahl im Namen gab es in den letzten Jahren auch in Tübingen, Offenbach, Aachen oder Münster. Klaus Selle hat einige von ihnen begleitet. Der Stadtforscher meint, dass die Beteiligung von Bürger:innen vor allem seit dem Debakel um Stuttgart 21 einen Sprung gemacht habe. »Es ist ein neuer Typ von Stadtentwicklung in der Kommunikation und der Ansprache existierender Akteure in der Stadtgesellschaft«, sagt Selle dazu. Es sei dieses Marketing in die Stadt hinein, das wichtig für erfolgreiche Beteiligung ist. Vorausgesetzt, das Angebot zur Beteiligung ist ernst gemeint. Sonst sei es nur Selbstzweck: Bürger:innenbeteiligung, um sagen zu können, das Bürger:innen beteiligt werden. Selle hat dafür den Begriff »Particitainment« eingeführt.


Damit Beteiligung mehr als das ist, brauche es einige Grundprinzipien:


  1. Die Zukunft geht die meisten Teile einer Stadtverwaltung etwas an. Deshalb sollten viele Ressorts am Planungstisch sitzen. Je höher das Projekt aufgehängt ist, etwa bei dem:der Oberbürgermeister:in, desto wahrscheinlicher sind öffentliche Aufmerksamkeit und Erfolg.
  2. Damit Begriffe wie »Zukunftsdialog« oder »Reallabor« keine leeren Worthülsen sind, müssen die Initiator:innen mehr als Wunschzettel oder Listen zum Abhaken liefern. Dass die Menschen sich mehr Bäume in der Stadt wünschen, ist klar. Beteiligung muss also nicht bei null anfangen, sondern sollte schnell zu konkreten Projektideen führen. Denn Stadtbewohner:innen sind auch Alltagsprofis. Eine Mutter kennt sich mit Spielplätzen meist besser aus als ein Stadtplaner. Diese Erfahrung gilt es zu nutzen.
  3. Bürger:innenbeteiligung ist selten repräsentativ. Besonders aktiv sind die Bürger:innen, die sich bereits engagieren und zu Wort melden. Häufig sind das weiße, akademisch gebildete Menschen. Für andere ist die soziale Schwelle zu hoch oder sie sehen keinen Sinn im Mitmachen. Die Städte müssen diese Menschen in ihren Lebenslagen ansprechen und zeigen, dass ihre Meinung relevant ist. Der Kontakt gelingt am besten über Vertrauenspersonen aus Vereinen, Schulen und anderen Gemeinschaften. Interviews mit einigen Schlüsselpersonen aus der Stadtgesellschaft geben in kurzer Zeit tiefe Einblicke in das Wissen und den Bedarf verschiedener Bevölkerungsgruppen.
  4. Das heißt nicht, dass die vielen Engagierten außen vor sind. Ihre Ideen und Netzwerke in der Stadt können ein Raketenantrieb für Beteiligungsprozesse sein. Daraus entstehen wieder neue Ideen und Kooperationen, sodass eine wertvolle Eigendynamik für Stadtentwicklung entsteht.
  5. Diese Dynamik sollte auch dann nicht versanden, wenn die breite öffentliche Aufmerksamkeit schwindet. Städte können dabei helfen, indem sie Infrastrukturen zum Weitermachen aufbauen.

Das alles kann die Identifikation der Bürger:innen mit der eigenen Stadt stärken. Niklas Reinert bestätigt das: »Wir dürfen die Kieler:innen auch als Quelle von Ideen nicht unterschätzen. Nach dem offiziellen Ende des Beteiligungsprozesses soll es weiterhin eine digitale Plattform für Ideen der Bürger:innen und womöglich auch analoge Anlaufstellen in der Stadt geben. Wenn alle beteiligt sind, sind dann automatisch auch alle zufrieden? »Nein«, antwortet Reinert, »aber alle sollten sich im Ergebnis wiederfinden.«

Auf dem kreidebunten Asphalt der Kiellinie wird deutlich, wie schwierig das ist. »Ich liebe es, hier auch mit dem Auto zu fahren« steht dort geschrieben. Daneben ein Pfeil und ein »Ich nicht«. Mit solchen Konflikten verhält es sich wohl wie mit dem aufgezeichneten Zauberwürfel einige Meter weiter. Die Auflösung braucht Zeit, kommt aber bestimmt.

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