Ein Mann hat bei einem Amoklauf in Atlanta sechs Frauen mit asiatischen Wurzeln getötet. An seinem rassistischen Motiv wird gezweifelt. Ein Kommentar.
Atlanta - In den deutschen sowie den US-Medien liest man zu dem Amoklauf in Atlanta, Georgia Folgendes: „Laut den Ermittlern, deuteten die vorläufigen Untersuchungen darauf hin, dass der Verdächtige, Robert Aaron L., kein rassistisches Motiv gehabt habe", „er sagte den Ermittlern auch, dass die Tötungen nicht rassistisch motiviert seien. Die Beamten sagen, es sei zu früh, um festzustellen, ob dies ein Hassverbrechen war" oder der Verdächtige „hat nach Angaben der Polizei jedoch ein politisches Motiv bestritten".
Diese Angaben sind indes lediglich Behauptungen des Verdächtigen, die dieser nach seiner Festnahme gegenüber der Polizei machte. Stimmt es also, was der Verdächtige sagt? Ist es richtig, wenn die Medien seine Behauptungen zu seinen Motiven ungeprüft übernehmen? Selbstverständlich nicht! Zum jetzigen Zeitpunkt gilt als gesichert, dass der Verdächtige am Dienstag (16.03.2021) acht Menschen in und um Atlanta in drei Massagesalons erschoss, deren Kunde er in der Vergangenheit war. Er ist sexsüchtig, war deswegen bereits stationär in Behandlung und in derartigen Massagesalons werden oft auch sexuelle Dienstleistungen angeboten. Sieben der Todesopfer sind Frauen, sechs mit asiatischen Wurzeln. Der Verdächtige wurde inzwischen wegen achtfachen Mordes angeklagt.
Amokschütze von Atlanta: Polizeisprecher bezeichnet Massagesalons als Versuchung für MännerIm Anschluss an die Verhaftung des Verdächtigen, sagte der Sprecher des Sheriffs von Cherokee County, Jay Baker, in einer Pressekonferenz mit irritierender Unbekümmertheit, der Verdächtige habe ein Problem, das er als Sexsucht bezeichne, er sehe diese Etablissements als Versuchung, die er eliminieren wolle. Ferner sei der Verdächtige laut Baker ziemlich am Ende gewesen, er habe einen sehr schlechten Tag gehabt „und dann hat er das getan."
All dies aus dem Mund eines Polizeisprechers zu hören, ist höchst ungewöhnlich, wenn nicht gar verstörend. Denn Baker gibt nicht etwa neutral die Aussagen des Verdächtigen wieder, er versieht sie mit einer eigenen Wertung, spielt - so scheint es zumindest - die Taten herunter und stellt sich damit ein Stück weit vor den 21-jährigen Verdächtigen. Besonders auffällig ist dies, als Baker bekundet, der Verdächtige habe die Verantwortung für seine Taten übernommen. Diese Worte wählt womöglich ein Lehrer, der sich vor dem Kollegium gegen den Schulverweis eines Schülers ausspricht, nicht aber ein Polizist bei einer Pressekonferenz im Anschluss an einen Amoklauf, bei dem acht Menschen getötet wurden. Korrekt wäre gewesen, wenn Baker gesagt hätte, der Verdächtige habe die Taten gestanden oder er habe das Tatgeschehen eingeräumt.
Amokschütze in Atlanta: Rassismus eines Polizisten ohne FolgenHinweise auf einen Grund für Jay Bakers höchst unprofessionelles Verhalten liegen inzwischen vor: Im Frühling letzten Jahres bewarb er auf seiner Facebook-Seite T-Shirts, die der Rhetorik von Ex-Präsident Donald Trump entsprechen, indem Covid-19 darauf als „aus Chy-na importiertes Virus" bezeichnet wird. Es kann also nicht ausgeschlossen werden, dass der zuständige Polizeisprecher, ein Staatsbediensteter der Exekutive, womöglich in seinem anti-asiatischen Rassismus mit dem Verdächtigen sympathisiert, der zugegeben hat, kurz vorher acht Menschen getötet zu haben, darunter sechs asiatischstämmige Frauen. Inzwischen wurde bekannt gegeben, dass Jay Baker nicht länger als Sprecher in diesem Fall fungieren wird, er ist aber noch immer im Dienst. Wieder einmal hat offen zur Schau gestellter Rassismus eines Polizisten keine Konsequenzen.
Wem obliegt nun aber die Entscheidung über das Tatmotiv des Verdächtigen? Grundsätzlich dem Gericht. Im Rahmen des Strafprozesses wird ermittelt, welche Motive der Verdächtige hat, da sich dies darauf auswirkt, welche Straftatbestände ihm vorgeworfen werden und für welche er schlussendlich verurteilt wird. Dabei werden die Aussagen des Verdächtigen zwar berücksichtigt, dennoch werden natürlich Ermittlungen angestellt, um den Wahrheitsgehalt der Aussagen zu überprüfen. Denn es könnte sich um Falschaussagen handeln oder es könnten noch weitere Motive hinzukommen, die der Verdächtige verschweigt, da man sich nicht selbst belasten muss.
Amokschütze von Atlanta: Medien haben das Narrativ des Verdächtigen übernommenBei aufsehenerregenden Straftaten indes, findet in den Medien meist eine Vorverurteilung statt, wenn viele Fakten eines Falles bereits vor dem Strafprozess bekannt werden. Wenn ein Mensch, der als muslimisch gelesen wird, ein Selbstmordattentat verübt, wird sofort auf einen islamistischen Terroranschlag geschlossen. Bei weißen Tätern sind die Medien meist deutlich zurückhaltender. In diesem Fall gingen sie anfangs sogar so weit, das Narrativ des Verdächtigen einfach zu übernehmen - schließlich hat die Polizei es bei der Pressekonferenz vorgemacht. Aussagen eines Verdächtigen dürfen jedoch nicht einfach ungeprüft übernommen werden. Indem Medien dies tun, missachten sie ihre journalistische Sorgfaltspflicht.
Hätten sich viele Medien, sowohl in den USA als auch in Deutschland, kritischer mit den Tatsachen des Falles auseinandergesetzt, hätten sie gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit als Tatmotiv nicht zunächst abgetan. Darunter fallen unterschiedliche Formen der Diskriminierung, welche oft auch gehäuft auftreten. Häufige Kombinationen sind beispielweise Rassismus, Antisemitismus und Islamfeindlichkeit. Bei dem Amoklauf von Atlanta deutet bisher alles auf Frauenfeindlichkeit und Rassismus hin. Der Verdächtige erschoss nicht etwa wahllos Menschen unterschiedlichen Geschlechts und verschiedener ethnischer Herkunft - er erschoss gezielt asiatischstämmige Frauen. Als Begründung gibt er an, er habe eine „Versuchung" beseitigen wollen. Offenbar sieht er also in asiatischen bzw. asiatischstämmigen Frauen eine Versuchung, die es für ihn zu eliminieren gilt.
Amoklauf in Atlanta: Frauen werden hypersexualisiertEs ist eine traurige Wahrheit, dass sowohl asiatische als auch schwarze Frauen von weißen Männern oftmals exotisiert, hypersexualisiert und fetischisiert werden. Aufgrund ihrer ethnischen Herkunft werden ihnen bestimmte sexuelle Eigenschaften zugeschrieben - genau das ist Rassismus in Kombination mit Frauenfeindlichkeit. Die Frauen werden dabei entmenschlicht und als (Sex-)Objekte gesehen. Es wird höchste Zeit, die Dinge beim Namen zu nennen. Wenn ein Tatverdächtiger ein Motiv nennt, oder auch ein mögliches Motiv verschweigt, ob nun unbeabsichtigt oder vorsätzlich, ist es nicht nur die Pflicht der Justiz, seine wahren Motive zu ermitteln. Es ist auch die Pflicht der Medien, auf Offensichtliches hinzuweisen und nicht etwa dem Narrativ des Verdächtigen zu folgen. Sonst handeln sie genauso, wie Jay Baker, der inkompetente, rassistische Sprecher des Sheriffs von Cherokee County. (Johanna Soll)
Rubriklistenbild: © Tami Chappell/imago-images