Wenn es nach unserer US-amerikanischen Leserschaft ginge, stünde das Ergebnis der Vorwahlen fest: Die meisten Leserinnen und Leser, die uns auf unsere Frage nach dem geeigneten demokratischen Kandidaten für die Präsidentschaftswahl schrieben, sind für Senator Bernie Sanders. Vor allem seine Forderung nach einem faireren Gesundheitssystem begeistert viele. Doch auch die Unterstützer des ehemaligen Vizepräsidenten Joe Biden treibt die Gesundheitspolitik um.
Bis Juni werden die Demokraten ihren Kandidaten für die Präsidentschaftswahlen im November noch wählen. Nach dem Ausstieg von Pete Buttigieg, Michael Bloomberg, Amy Klobuchar und Elizabeth Warren bleiben Joe Biden und Bernie Sanders als Favoriten im Rennen. Biden liegt derzeit mit 626 Stimmen vorn, ihm folgt Sanders mit 550 Stimmen.
"Sanders hat die soziale Ungerechtigkeit zum Mittelpunkt seiner Agenda gemacht"Johanna Soll, 37 Jahre alt, ist als Tochter einer afroamerikanischen Mutter und eines deutschen Vaters in Hamburg geboren und aufgewachsen. Seit Juli 2019 lebt sie mit ihrem Lebensgefährten in Boulder, Colorado. Vorher hat sie ihre Verwandten in den USA immer nur im Urlaub besucht. Soll engagiert sich als Freiwillige für die Organisation Our Revolution Boulder, die unter anderem Bernie Sanders unterstützt.
Nicht erst die Wahl Trumps hat gezeigt, dass in den eine soziale und ökonomische Schieflage besteht. Die Löhne stagnieren, gleichzeitig sind die Lebenshaltungskosten vor allem in den Städten stark gestiegen. Hier ist es möglich, von einem Tag auf den anderen seinen Job oder seine Mietwohnung zu verlieren, denn das soziale Netz, das wir in Deutschland kennen, fehlt fast vollständig.
Diese Missstände werden von den meisten US-Politikern beider Parteien oft nicht angesprochen. Wenn doch, wird selten eine klare Lösung genannt oder eine, die weit genug reicht. Bernie Sanders hat die soziale Ungerechtigkeit zum Mittelpunkt seiner Agenda gemacht und spricht damit viele Amerikaner an, mich eingeschlossen.
Mit großem Interesse verfolge ich auch die Berichterstattung über ihn in den deutschen Medien. Meines Erachtens wird er darin oft nicht zutreffend dargestellt, unter anderem, wenn es darum geht, sein Wahlprogramm politisch zu verorten. In den USA sind seine Forderungen nach einer gesetzlichen Krankenversicherung, gebührenfreien öffentlichen Universitäten, bezahlbarem öffentlichem Wohnraum, freien und fairen Wahlen sowie einer verantwortungsvollen Außenpolitik wohl recht weit links. Nicht aber in Deutschland. Dort würden auch viele CDU-Wähler der Ära Angela Merkel Sanders' politische Forderungen unterstützen, denke ich.
Die Medien verstehen nicht, weshalb so viele demokratische Wähler einen alten weißen Mann mit zerzaustem weißem Haar unterstützen, der, wenn er vor Publikum auftritt, eher schreit als redet und dabei wild mit den Armen herumfuchtelt.Die etablierten Medien in den USA können sich den Erfolg von Sanders kaum erklären, entspricht er doch so gar nicht dem stereotypen Bild eines Präsidentschaftskandidaten. Sie verstehen nicht, weshalb so viele demokratische Wähler einen alten weißen Mann mit zerzaustem weißem Haar unterstützen, der sich selbst als "demokratischen Sozialisten" bezeichnet, der, wenn er vor Publikum auftritt, eher schreit als redet und dabei wild mit den Armen herumfuchtelt. Aber es ist genau diese Authentizität und Leidenschaft, die Bernie Sanders' Anhänger an ihm schätzen. Mir persönlich gefällt dieser Stil nur bedingt, es sind seine politischen Inhalte, die ich unterstütze. Mir gefällt auch die selbst gewählte Bezeichnung als "demokratischer Sozialist" nicht; Sozialdemokrat ist meines Erachtens korrekt.
Bernie Sanders hat es geschafft, seinen Wahlkampf nur mit Kleinspenden zu finanzieren und dennoch den höchsten Spendenbetrag unter den demokratischen Präsidentschaftskandidaten zu erzielen. Außerdem hat er es geschafft, unterstützt durch diverse Freiwillige und deren Organisationen, eine politische Bewegung zu generieren. Diese Freiwilligen haben sich seit Anfang 2020 merklich besser organisiert, in örtlichen Gruppen zusammengeschlossen und machen nun gemeinsam Wahlkampf für Bernie Sanders, indem sie Veranstaltungen abhalten und Wähler mobilisieren.
Auch wenn Bernie Sanders die Vorwahl der Demokraten nicht gewinnen sollte, hat er bereits etwas gewonnen: Er hat es quasi im Alleingang geschafft, seine Positionen zum Gegenstand des politischen Diskurses in den USA zu machen. Vor einigen Jahren war das noch undenkbar.