Jörn Kabisch

Freier Journalist und Blattmacher, Berlin

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Artikel

Aus #foodporn wird #soulfood

Und dazu ein schönes Glas Burgunder!

In der Isolation verliert Essen seinen Distinktionscharakter. Fotogene Burger und Bowls weichen Speck, Linsenbrei und Schokoküssen. Schlimm? Nein.


Noch bevor wir angefangen haben, Masken zu tragen, konnten wir beobachten, wie Masken fallen. Selbst Ministerpräsidenten geraten die Frisuren aus der Fasson, TV-KorrespondentInnen schminken sich lieber gar nicht als falsch, der schöne Schein weicht dem menschlichen, allzu menschlichen Antlitz. Der Grunge-Look erfährt in Corona-Zeiten ein unerwartetes Comeback, und das lässt sich auch auf den Food-Fotos in den sozialen Medien ablesen. All die Postings, für die sich der Hashtag #foodporn eingebürgert hat, die Menschen können davon auch am heimischen Küchentisch nicht lassen, obwohl da noch mehr aus der Fasson gerät.


Das Handy ist in den letzten Jahren zu einem eigenen Besteckteil neben Messer und Gabel geworden, und damit ist die Visualität dessen, was auf dem Teller liegt, für den allgemeinen Appetit mindestens so wichtig geworden wie der Geschmack. Teller lassen sich umso besser ablichten, desto kontrastreicher das Gericht darauf ist, je mehr Farben, und Formen es beinhaltet, auch Dreidimensionalität spielt eine Rolle. Es ist eine Erklärung, warum Burger, Bowls und Cupcakes zum It-Food der vergangenen Jahre geworden sind - zwischen Brotscheiben kann gestapelt werden, Schüsseln sehen aus wie wuchernde Blumenbeete, und mit Crèmes, Schokoherzen und Zuckerperlen lassen sich die waghalsigsten Kronen auch auf kleine Kuchen zaubern.


Obwohl Essen und Ernährung dabei in den vergangenen Jahren stetig an Bedeutung zugenommen haben, ergaben Umfragen immer wieder, dass die Zeit für die Zubereitung auf ein Minimalmaß geschrumpft ist. Nach dem aktuellen Ernährungsreport kochten vor der Coronakrise nur 40 Prozent der Menschen in Deutschland täglich. Das dürfte sich massiv verändert haben. Corona stellt die modernen Ess- und Trinkgewohnheiten auf den Kopf.

Lange galt der Satz „Du bist, was du isst". In den Nuller- und Zehnerjahren änderte er sich, angetrieben von den sozialen Medien, in das Motto „Du isst, was du sein willst." Je mehr Nahrung Ort der Identitätssuche wurde, umso schneller wechselten die Trends und poppten neue Superfoods auf. Wie die Gesetze der Mode um sich gegriffen hatten, merkt man erst jetzt so richtig, da die Pandemie alles auf null gefahren hat.


Ein braun-gelbes Mischmasch

Aufläufe, Eintöpfe, Schmorgerichte, viel Frittiertes - das wird jetzt gepostet und auch geliked, oft mit dem Hashtag #soulfood versehen. Sieht nicht gut aus, aber schmeckt und wärmt die Seele. In der zweiten Aprilwoche waren in US-Supermärkten nicht die Klopapierregale leer, dafür stapelten sich in den Einkaufswagen Hülsenfrüchte und Daal wurde zum sich weltweit verbreitenden Meme: ein zwar wirklich schmackhaftes Linsencurry, aber irgendwie auch nur ein braun-gelbes Mischmasch - in #foodporn-Kategorien ein Fail ersten Ranges.


Die Pandemie hat etwas Paradoxes ... (weiter auf taz.de)

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