Viele Kinder von anonymen Samenspendern suchen ihren Erzeuger. Christoph hat Glück. Protokoll einer ersten Begegnung
Nur 45 Minuten, dann wird sein Leben anders sein. Auf den blauen Polstersitzen der Regionalbahn fährt Christoph dem Essener Hauptbahnhof entgegen. Vor dem Fenster ein grauer Tag, flaches Land, Ruhrgebiet. Dieselbe Strecke ist seine Mutter vor mehr als 24 Jahren gefahren, um sich den Samen eines Fremden in die Gebärmutter spritzen zu lassen. Christoph, schmal und blass, will den Mann treffen, der damals in einen Becher ejakuliert hat. Vor zwei Jahren sagte seine Mutter: Dein verstorbener Papa war unfruchtbar. Du bist durch eine anonyme Samenspende entstanden.
Christoph wühlt in seinem Rucksack und holt den Energydrink hervor, den er vor der Abfahrt gekauft hat. Die klebrige Süße lenkt ihn ab, ein paar Sekunden lang. Dann nimmt er sein Smartphone und wischt mit feuchten Fingern durch die Mails; er will noch einmal lesen, was er und der Samenspender sich in den letzten Monaten geschrieben haben. Wenn sie sich gleich zum ersten Mal sehen, braucht man ein Gesprächsthema. Im Postfach auf dem Display erscheint auch die Mail der amerikanischen Genealogiefirma Family Tree DNA. Sie machte überhaupt möglich, dass er sich jetzt auf dem Weg befindet: "Ein Family Finder Match wurde gefunden, zwischen Nr. 2881004 und einer anderen Person." Der Verwandtschaftsgrad:"parent/child".
Christoph hatte über das Internet bei der Firma in Texas einen DNA-Test für 99 Dollar bestellt. Es war ein Weihnachtsgeschenk von seiner Mutter, nachdem sie ihm die Samenspende gestanden hatte. Aus Amerika kam ein Set mit zwei Wattestäbchen und einer Einverständniserklärung. Christoph steckte sich die Stäbchen in den Mund, packte sie in die vorgesehenen Behälter und die in den Rückumschlag. Acht Wochen später klappte er seinen Laptop auf und hatte plötzlich einen Vater. Mit Namen, mit E-Mail-Adresse.
In Deutschland gibt es geschätzte 100.000 Menschen, die durch Samenspenden gezeugt sind. Christoph ist der Erste hierzulande, der seinen leiblichen Vater durch einen kommerziellen Gentest gefunden hat. Durch eine Firma, die sich eigentlich an Hobbygenealogen wendet: Ihre Kunden sind Ahnenforscher auf der Suche nach Verwandten in fernen Ländern. "Entschlüssele deine Familiengeschichte, jetzt!" lautet der Slogan. Für die sogenannten Spenderkinder kann der Test wirklich der Schlüssel zu ihrer Identität werden.
Christoph will wissen, ob er seine braunen Augen vom Vater hat und ob dem sein T-Shirt gefällt. Er hat zwei Tage darüber gegrübelt, was er anziehen soll. Nicht das Hemd mit den Katzen, das ist zu verspielt. Lieber klassisch, cool. Also das graue Shirt. Er wischt sich die Hände an der Jeans ab. Je näher der Zug dem Essener Hauptbahnhof kommt, desto schneller wippt sein Bein. Er fühlt sich wie auf dem Rummel, ganz oben auf dem Power Tower. Da wird eine offene Gondel einen Turm hinaufgezogen, 60 Meter hoch in Sekundenschnelle. Oben bleibt sie kurz stehen. Diese Angst, diese Vorfreude! Und das Wissen: Gleich stürze ich ab. Dann fällt die Gondel in die Tiefe, und man weiß nicht, ob man schreien, lachen oder sich in die Hose pinkeln soll. Der Zug hält.
Family Tree DNA (FTDNA) hat nach eigenen Angaben die größte Datenbank im Bereich der genetischen Genealogie. Mehr als 700.000 Menschen haben ihre Speichelproben eingeschickt. Die Laborergebnisse werden von einer speziellen Software auf Ähnlichkeiten untersucht, um Verwandtschaften festzustellen. Wenn zwei Menschen identische DNA-Segmente haben, teilen sie einen Vorfahren. Je nachdem, wie groß diese übereinstimmenden Abschnitte sind und wie viele gefunden werden, lässt das auf den Grad der Verwandtschaft schließen.
Gibt es einen Treffer, ein "Match", werden die Personen per E-Mail informiert und erhalten ihre Kontaktdaten. Sie können sich auf der Plattform einloggen und sehen, wie sie miteinander verwandt sind. Sogar die Menge an geteilter DNA wird grafisch dargestellt.