Vor einer Kirche im lettischen Riga haben sich einige Hundert Menschen bei Minusgraden in der Wintersonne versammelt. Unter ihnen sind etwa ein Dutzend alter Männer und Frauen in den waldgrünen Uniformen der Lettischen Waffen-SS. Es ist Freitag - und die Versammelten wollen den Tag mit einer stillen Prozession beginnen.
Es ist nicht einfach irgendeine Prozession. An diesem Tag vor 74 Jahren kämpften zwei Grenadier-Divisionen aus Lettland, die von den Letten heute "Legionäre" genannt werden, auf der Seite der Wehrmacht.Bei Leningrad errangen sie einen vorübergehenden Sieg gegen die Rote Armee. Die Veranstaltung soll nun der toten Kameraden gedenken - der "Tag der Legionäre" wird seit Jahren gefeiert. Die rechte Partei Nacionālā apvienība (auf Deutsch: "Nationale Allianz") organisiert die Prozession.
Dass es sich bei den 40.000 Soldatinnen und Soldaten, den "Legionären", größtenteils um Freiwilligenverbände gehandelt hat, die ab 1941 von der NS-Bürokratie rekrutiert wurden, bestreiten die meisten Letten vehement. Sie betonen lieber, dass die wehrfähige Bevölkerung von den Nazis zwangsmobilisiert worden war - und bei den Nürnberger Prozessen von der Verurteilung der SS als kriminelle Organisation ausgenommen wurde.
Die Taten der Lettischen SS-Verbände werden so bis heute verharmlost.
"Sie haben vielleicht auf der falschen Seite der Geschichte gekämpft, aber sie hatten keine andere Wahl", glaubt der 17-jährige Prozessionsteilnehmer Kārlis Baumanis, der sich schwarze Lederstiefel und einen Trachtenpullover für den "Tag der Legionäre" angezogen hat. Als sein Großvater und die anderen Mitglieder der Lettischen Waffen SS auf der Seite der Nazis kämpften, waren sie kaum älter als er.
"Sie taten, was sie tun konnten, als die Russen in den Vierzigerjahren einmarschierten", sagt Kārlis. Deshalb will er selbst auch in die Armee eintreten, "wenn Krieg gegen Russland ausbricht" - er hoffe aber, dass es nicht so weit kommt.
So wie Kārlis denken viele seiner Landsleute über alle Altersgrenzen hinweg: Um die Rote Armee aus ihrem Land zu vertreiben, hätten die Legionäre damals den Pakt mit den Nazis schließen müssen. Sie versprachen sich nationale Unabhängigkeit davon, mit den Deutschen gegen die Sowjets zu kämpfen.
Als Nazi-Kollaborateure will die Veteranen aber kaum jemand bezeichnen.Auch die Organisatoren des Marschs im Zentrum von Riga geben sich alle Mühe, die Veranstaltung vom NS-Kontext zu entkoppeln. An den Mänteln der Veteranen finden sich weder Orden noch andere NS-Abzeichen, außer der lettischen Flagge sind kaum Nationalsymbole zu sehen.
Stattdessen haben sie die Teilnehmer mit Slogans ausstaffiert: "Nein zum Nazismus, Nein zum Kommunismus, Nein zu Besatzungsmächten - Ja zu einem freien Lettland!", ist auf Schildern zu lesen, von denen auch Kārlis eines durch die Stadt trägt. "Niemand glorifiziert heute noch den Nationalsozialismus", sagt er. Und: "Wir haben nichts mit Nazis zu tun und sind gegen jegliches totalitäre Regime."
In den Augen einiger ist die Prozession sogar nur eine harmlose Gedenkveranstaltung. Kitija Gorbatschewa nennt ihre Teilnahme eine "Familientradition". Um zu dem Marsch zu kommen, ist ihre Familie um fünf Uhr aufgestanden und 100 Kilometer aus der lettischen Provinz in die Hauptstadt gefahren.
"Ich bin sehr stolz und glücklich, hier zu sein", sagt die 22-Jährige. Veranstaltungen wie diese seien "wichtig für die Letten, weil sie nationalistisch sind und große Kraft haben: Die Ereignisse liegen so viele Jahre zurück, aber wir kommen noch immer und gedenken ihrer!" Mit der "Nationalen Allianz" habe sie nichts zu tun, sondern sei nur zu Ehren ihres Großvaters hier, der selbst in den Reihen der Soldaten mitmarschiert.
Der Tag werde von politischen Bewegungen für ihre Zwecke missbraucht, findet hingegen der 28-jährige Gatis Liepiņš, der bei der Parteijugend der konservativen Vienotība ("Einigkeit") im Vorstand sitzt.
"Wir sehen einige politische Organisationen, die in der ersten Reihe teilnehmen - nicht die Legionäre sind dort zu sehen, sondern vor allem diese Leute", sagt er und meint damit die rechte Partei Nacionālā apvienība, deren Parteichef Raivis Dzintars pressewirksam von zwei Fahnenträgern flankiert mit einem Blumenkranz in den Händen ankommt.
Er legt ihn später am Freiheitsdenkmal nieder, wo die Inszenierung ihren Höhepunkt erreicht: Junge Männer bilden auf dem Vorplatz ein Fahnenspalier aus tiefrot-weißen lettischen Nationalflaggen, junge Frauen mit Blumenkronen aus weißen Rosen verteilen Blumen an die Prozessionsteilnehmer. Danach bricht die Gruppe auf zum "Brüderfriedhof" in der Ortschaft Lestenē, wo mehr als im Zweiten Weltkrieg gefallene Soldaten begraben sind.
Auch Mitglieder der Regierungspartei Vienotība nehmen an der Gedenkfeier in Lestenē teil, sagt Liepiņš. Sie stehe schließlich allen Letten offen. Dass mindestens ein Teil der Polizeidivisionen, die in die Lettische Waffen-SS eingegliedert wurden, an Kriegsverbrechen wie dem Massaker im Wald von Rumbula am Rigaer Stadtrand beteiligt war - davon wollen die meisten nichts wissen, gleich mit welcher Partei sie sympathisieren.
"Jeder hat das verfassungsmäßige Recht, zu demonstrieren und zu gedenken, wes sie wollen. Das können wir nicht einschränken", meint Liepiņš.
Und überhaupt: Erinnerungen an SS-Freiwilligendivisionen gebe es in allen Ländern, die von den Nazis besetzt worden waren. Niemand habe sich in den Anfangsjahren daran gestört, bis es 1998 ein Attentat auf die Synagoge und die russische Botschaft in Riga gegeben habe. Nun sei das Event politisiert - und auch prorussische Kräfte wollten es für sich einnehmen, um die Letten des Faschismus zu bezichtigen.
"Faschisten sind doch heute die aus dem Osten", sagt der 88-jährige Janis, der seinen Nachnamen nicht nennt. An seinem Hut hat er einen Anstecker mit der deutschen und lettischen Flagge befestigt, ist aber selbstverständlich nur "zum Zuschauen" an das Freiheitsdenkmal gekommen. Unbewegt sieht er zu, wie lettische Polizisten einen Demonstranten wegtragen, der auf Englisch brüllt: "Ich habe das Recht, gegen Faschismus in Europa zu demonstrieren! Ihr könnt keine Mitglieder der Europäischen Union sein!"
Er trägt ein Schild bei sich, das SS-Soldaten zeigt, die ihre Gewehre auf Zivilisten richten - darunter steht "Freiheitskämpfer bei der Arbeit". Der Mann schreit auf, irgendwann kommen russische Worte aus seinem Mund. Später ist in der Zeitung zu lesen, dass noch eine weitere Person festgenommen wurde.
"Wenn Gegendemonstranten da sind, dann werden die in der Regel von Russland finanziert", unkt Gatis Liepiņš von der "Vienotība". "Diesmal haben sie wohl nicht genug Leute zusammenbekommen". Er hält solche Aktionen für sehr gefährlich: "Provokationen, die bei solchen Veranstaltungen hervorgerufen werden können, sind internationale Provokationen", sagt er. "Unser Nachbar könnte das gegen uns verwenden" - und eine "physische Gegenreaktion" einleiten, fügt er vielsagend hinzu.
Die russischsprachige Minderheit, die in Lettland 27 Prozent der Bevölkerung ausmacht, muss sich nun zunehmend gegen Vereinnahmung wehren."Bei Referaten und in Diskussionen musste ich anfangs allen beweisen, dass ich nicht die Meinung des Kreml vertrete, sondern selbst und differenziert denke", sagt die 25-jährige Veronika Beluza, die an der Universität Lettlands Politikwissenschaft studiert.
Bei ihr und ihrem 22-jährigen Freund Igors Muravjovs, der sich mit der lettischen Version seines Namens vorstellt, geht die Kontroverse mitten durch ihre Familien: Ihre Großeltern denken nicht nur schlecht an die Sowjetunion zurück und feiern auch den "Siegestag" am 9. Mai, der in vielen ehemaligen Sowjetstaaten an den Sieg der Roten Armee über den Nationalsozialismus erinnert.
Igor und Viktoria haben sich weder am Marsch noch an einer Gegendemonstration beteiligt. Wenn er nun einen der beiden Gedenktage feiern müsste, dann wohl eher den 16. März, meint Igor. Aber seinen Großeltern gegenüber erwähne er das lieber nicht.