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RAF-Suizide in Haft: Die Todesnacht von Stammheim

Drei führende RAF-Mitglieder starben in der Nacht zum 18. Oktober 1977 in Haft. Das Ereignis erschütterte die Bundesrepublik - und mündete in einen der größten Justizskandale der Nachkriegszeit.

Das Hochhaus mit der gefalteten Fassade wirkt der Umgebung seltsam entrückt. Unvermittelt ragt es hinter einem gemütlichen Wohngebiet auf, ringsum saftige Weiden. Abgeschieden, abgeschottet - die Justizvollzugsanstalt Stuttgart am Rande des Stadtteils Stammheim. "Hygiene, Sicherheit des Aufsichtspersonals und Ausbruchssicherheit sind perfekt", erklärte der "Abendschau"-Reporter am 17. September 1963, am Tag nach der Gefängnis-Übergabe. Die JVA Stuttgart war damals Deutschlands modernste und teuerste Strafanstalt.

Tatsächlich sollte sie den Staat teuer zu stehen kommen.

Als Vollzugsbeamte gegen acht Uhr morgens am 18. Oktober 1977 die Zellen im siebten Stock aufschlossen, entdeckten sie nacheinander vier tote oder schwer verletzte RAF-Häftlinge. In Zelle 716 saß Jan-Carl Raspe zusammengesackt auf seinem Bett, aus einer Schusswunde im Kopf blutend, er starb wenige Stunden später. Andreas Baader lag in Zelle 719 mit einer Schusswunde im Nacken tot auf dem Fußboden, Gudrun Ensslin hatte sich in der Nachbarzelle 720 mit einem Lautsprecherkabel am Fensterkreuz erhängt. Irmgard Möller lag in Zelle 725 mit schweren Stichverletzungen in der Brust auf ihrem Bett, sie überlebte als Einzige.

"Haben Sie erschossen gesagt?"

Horst Bubeck, damals stellvertretender Justizvollzugsdienstleiter, informierte Haftrichter Eberhard Foth telefonisch. "Haben Sie erschossen gesagt?", fragte der völlig entgeistert. "Dass sich die Häftlinge mit Waffen erschießen, in der Vollzugsanstalt, das schien mir ganz unmöglich", erinnerte sich Foth später in einem TV-Interview.

Bis dato galt die JVA Stuttgart als sicherste Strafanstalt Deutschlands, der von den Terroristen bewohnte siebte Stock als Knast im Knast. Die Öffentlichkeit war geschockt: Wie konnten die Gefangenen bei strenger Überwachung an Waffen kommen? Und wie den gemeinsamen Selbstmord trotz Kontaktsperre verabreden?

In der Zelle des handwerklich geschickten Raspe befand sich ein Radio. Die Häftlinge hatten die Gegensprechanlagen zum Vollzugspersonal so kurzgeschlossen, dass sie von Zelle zu Zelle miteinander reden konnten. Die Ermittler rekonstruierten, dass Raspe kurz nach Mitternacht die Nachricht von der Befreiung der entführten Lufthansa-Maschine "Landshut" in Mogadischu gehört und über die manipulierte Anlage seine Mitgefangenen informiert hatte. Den gemeinsamen Suizid hatten die inhaftierten Terroristen ihren Komplizen draußen schon mehrmals angekündigt - diesmal taten sie es.

Neben den Waffen entdeckten die Ermittler auch Sprengstoff in den Zellen. Die Waffen, schlussfolgerten sie, hätten Anwälte in die Haftanstalt geschmuggelt: Die Komplizen in Freiheit hatten sie zerlegt und die Einzelteile in Hohlräumen versteckt, die in die Handakten der RAF-Verteidiger geschnitten wurden - der einzige Gegenstand, der keiner genauen Inspektion unterzogen wurde.

Stück für Stück wurde klar, dass die RAF-Häftlinge maßgeblich die Attentate der "Offensive 77" mitplanten: Brigitte Mohnhaupt, einer der führenden Köpfe der zweiten Generation, hatte die letzten Monate einer vierjährigen Haftstrafe im 7. Stock der JVA zusammen mit Baader, Ensslin und Raspe verbracht - und war von ihnen ausführlich instruiert worden.

Legende vom staatlichen Mord

Die Sicherheitsvorkehrungen waren über Nacht Makulatur. Die Stuttgarter Vorzeigeanstalt erschien plötzlich als "Schweizer Käse aus Beton", wie es Journalist Stefan Aust ausdrückte.

Irmgard Möller erholte sich Ende Oktober 1977 im Justizvollzugskrankenhaus auf dem Hohenasperg von ihren Stichverletzungen. Wegen akuter Suizidgefahr wurde sie von einer Vollzugsbeamtin im Zimmer bewacht, bei stets offener Haftraumtür. Vor ihrem Krankenzimmer saß Peter Jesse, damals 19. Er hatte am 1. April 1977 seine Ausbildung zum Vollzugsbeamten begonnen. Die Bewachung von Möllers Krankenzimmer war sein erster direkter Kontakt mit der RAF.

Durch ein offenes Fenster drang an einem dieser Tage der Ruf von draußen "Irmgard, wir lieben dich. Mach weiter so!" - "Dieser Spinner", murmelte Möller. Jesse lacht ungläubig, wenn er sich daran erinnert. Heute ist er 59 Jahre alt und seit 17 Jahren Vollzugsdienstleiter der Anstalt.

Möller behauptete stets, der Staat habe ihre Mithäftlinge exekutiert - längst nicht mehr als eine Legende der linksradikalen Szene. Plausibler schon die These vom Selbstmord unter staatlicher Aufsicht: Stefan Aust konnte Akten des Landeskriminalamts Baden-Württemberg einsehen, denen zufolge Techniker des Verfassungsschutzes im März 1975 Mikrofone in zwei Besucherzellen der JVA Stuttgart einbauten. Im Mai wurden demnach drei zusätzliche Zellen verwanzt. Es gibt Indizien für eingebaute Mikrofone auch in den Zellen 718 und 719 - in Zelle 719 lebte Ulrike Meinhof bis zu ihrem Selbstmord am 9. Mai 1976, danach Andreas Baader.

Was wussten die Behörden wirklich?

Manches wirkt bis heute rätselhaft, unklar oder unglaubwürdig. Wenn die Zellen tatsächlich verwanzt waren: Hat der Staat ausgerechnet in der heißen Phase des "Deutschen Herbstes" nicht gelauscht, als es um Leben und Tod für den entführten Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer und für die 91 Geiseln der "Landshut" ging?

Die Todesnacht von Stammheim besiegelte den Mythos der JVA Stuttgart. Terrorzelle, Isolationshaft, Justizskandal - diese Schlagworte wirken bis heute nach. Der Mythos prägte auch die zweite Generation der RAF und führte der JVA Stuttgart weiter Insassen zu:

  • Die von der Bundesanwaltschaft "Mayer-Haag Bande" genannte Gruppe von RAF-Mitgliedern und Unterstützern um Siegfried Haag, Roland Mayer, Arndt Müller und Achim Newerla: Haag hatte Andreas Baader und Holger Meins verteidigt. Über den Hungertod von Meins tief entsetzt, tauchte er in die Illegalität ab und rekrutierte Mitglieder der zweiten RAF-Generation. Er soll an der Planung des Attentats auf die deutsche Botschaft in Stockholm beteiligt gewesen sein. Bei seiner Festnahme im November 1976 fanden die Ermittler Waffen und verschlüsselte Notizen zum Anschlag auf Siegfried Buback, zur geplanten Entführung von Jürgen Ponto und von Schleyer.
  •  Verena Becker und Sieglinde Hofmann: Bei Becker wurde im Mai 1977 bei ihrer Verhaftung die Waffe gefunden, mit der Generalbundesanwalt Siegfried Buback und seine Begleiter Wolfgang Göbel und Georg Wurster erschossen worden waren. Hofmann war an der Schleyer-Entführung und 1979 am Anschlag auf Nato-Oberbefehlshaber Alexander Haig beteiligt und wurde 1980 verhaftet.
  •  Adelheid Schulz und Brigitte Mohnhaupt: Beide waren an Planung und Ausführung der "Offensive 77" beteiligt. Sie wurden 1982 gemeinsam festgenommen, als sie ein RAF-Erddepot mit Waffen und falschen Dokumenten ausheben wollten.

Peter Jesse hat sie alle erlebt. Als Stuttgarter Vollzugsbeamter betreute er sie zwischen 1979 und 1984 und begleitete zahlreiche Terroristen zu Gerichtsterminen. In ihren Umgangsformen stand die zweite Generation der RAF den Vorgängern kaum nach: Die Häftlinge waren wortkarg und abweisend - es sei denn, sie wollten etwas. "Wurden bei Haftraumkontrollen Gegenstände nicht wieder an den ursprünglichen Ort zurückgestellt, gab es schon mal lautstarke Proteste", so Jesse.

Nach dem Selbstmord von Baader, Ensslin und Raspe sollten Umbauten alle Versteckmöglichkeiten beseitigen: Die Zellenböden wurden ausgegossen, die Wände mit Hartputz versehen, Sockelleisten herausgerissen. Eingebaut wurden WC und Waschbecken aus Edelstahl ohne Hohlräume sowie Betten aus Vollkunststoff, zu schwer, um sie zu bewegen.

Die Kommunikation innerhalb der Gruppe ließ sich indes weiterhin kaum unterbinden. "Der Informationsfluss lief nach wie vor über die Rechtsanwälte", sagt Jesse, etwa die Übermittlung von Infos und Forderungen der anderen Häftlinge; der Gruppenzwang sei zuweilen deutlich spürbar gewesen. Als Jesse einen der Gefangenen daran erinnerte, dass die Anwaltsbesuche freiwillig seien und er nicht hingehen müsse, winkte dieser ab: Das werde verlangt.

Begrüßungstritt in den Unterleib

Die RAF pflegte auch weiter ihre Paranoia: "Speisen wie cremige Nachtischvarianten wurden oft nicht entgegengenommen, da sie beigemischte Psychopharmaka vermuteten", so Jesse. Immerhin: Hatte Ulrike Meinhof bei ihrer JVA-Ankunft Vollzugsdienstleiter Horst Bubeck zur Begrüßung noch in den Unterleib getreten, blieben Tätlichkeiten gegen die Beamten in Jesses Dienstzeit aus.

Mehrmals versuchten die Häftlinge, ihren alten Trumpf auszuspielen: Mit knappen Erklärungen an die Vollzugsbeamten verkündeten sie einen Hungerstreik und verzichteten sofort auf ihre Mahlzeiten. Doch die Aktionen entfalteten nie wieder so viel Wirkung wie 1974, als Holger Meins an den Folgen starb.

Nervenzehrend waren sie dennoch, für alle Beteiligten - besonders wenn die Häftlinge zwangsernährt werden mussten: "Wir wurden als 'Eyrichs Schergen' und 'Mörder' lautstark beschimpft", sagt Jesse (Heinz Eyrich war damals Justizminister Baden-Württembergs). Die Zwangsernährung, eine schmerzhafte, umstrittene Prozedur, wurde in den Achtzigern abgeschafft. Heute wird sie nur noch durchgeführt, wenn der Patient nicht mehr über sich selbst entscheiden kann.

Siegfried Haag, Adelheid Schulz, Brigitte Mohnhaupt, Sieglinde Hofmann und zahlreiche andere ehemalige RAF-Terroristen sind in den vergangenen Jahren freigelassen oder begnadigt worden und in ein zumeist unauffälliges Leben abgetaucht. Der siebte Stock der JVA Stuttgart ist schon lange keine Terror-Etage mehr. Heute sitzen hier ganz gewöhnliche Untersuchungshäftlinge.

Die Haftanstalt ist in die Jahre gekommen, seit 2016 entsteht direkt nebenan ein Neubau. Der geschichtsbeladene Bau sollte abgerissen werden - doch weil Baden-Württembergs Gefängnisse überfüllt sind, muss das RAF-Hochhaus vorerst bleiben. Zusammen mit dem Neubau wäre Platz für über 1100 Häftlinge, die JVA Stuttgart damit die größte Haftanstalt im Land. Den Neubau priesen die "Stuttgarter Nachrichten" mit altbekannten Superlativen: "Stuttgart baut den Super-Knast."

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