Jana Werner

Autorin und Moderatorin, Hamburg

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Spitzenkandidaten: Bürgerschaftswahl, die große Unbekannte? - WELT

Hamburg Spitzenkandidaten

Bürgerschaftswahl, die große Unbekannte?

| Lesedauer: 5 Minuten

So eindeutig die politische Lage in Hamburg auf den ersten Blick scheint, so unsicher ist sie auf den zweiten. Alte wie neue Bündnisse sind in einer der letzten sozialdemokratischen Hochburgen möglich.

Ein Jahr vor der Bürgerschaftswahl scheinen die politischen Machtverhältnisse in Hamburg geklärt. SPD-Bürgermeister Peter Tschentscher bleibt im Amt - mit welchem Koalitionspartner auch immer. Und die CDU reiht sich mit gebührendem Abstand dahinter ein - mit welchem Spitzenkandidaten auch immer. Doch ist der Ausgang der Wahl tatsächlich so vorhersehbar? Natürlich ist er das nicht. Insbesondere deshalb nicht, weil der 26. Mai die Lage noch einmal durcheinanderwirbeln könnte.

An dem Tag findet nicht nur die Europawahl statt, sondern in Hamburg zudem die Bezirksversammlungswahl. Ein Urnengang, bei dem die Hanseaten über die Politik in ihrer direkten Nachbarschaft entscheiden, weshalb das Ergebnis ein ernsthafter Gradmesser für die Bürgerschaftswahl Ende Februar 2020 ist.

Kein Bezirk darf der SPD verloren gehen

Wo drückt den Bürgern in Altona, Bergedorf, Eimsbüttel, Hamburg-Mitte, Hamburg-Nord, Harburg und Wandsbek der Schuh? Wo wünschen sie sich einen neuen Spielplatz, einen neuen Park, eine neue Fußgängerampel? Während die Debatten in der Bürgerschaft oft als Treiben auf einer weit entfernten Insel wahrgenommen werden, geht es bei der Bezirksversammlungswahl um die Anliegen vor der eigenen Haustür - wesentlich greifbarer für den Alltag der Menschen.

Verliert die übermächtige SPD dabei mehr als einen der sieben Bezirke, wird die Unruhe unter den Genossen wachsen, wie es aus der Partei heißt. Die Sorge, dann wie im Bund in einen Abwärtsstrudel zu geraten, sei im Hinblick auf die Bürgerschaftswahl groß. Denn ein Blick in die Historie zeigt, wie hoch die Fallhöhe für Hamburgs Genossen sein kann.

Der Stadtstaat an der Elbe wählt bis auf wenige Ausnahmen traditionell rot. Bürgermeister wie Hans-Ulrich Klose, Klaus von Dohnanyi und Henning Voscherau erreichten Wahlsiege um die 50 Prozent. Auch der inzwischen in Berlin agierende Bundesfinanzminister Olaf Scholz regierte als Bürgermeister mit heute beinah unvorstellbaren Ergebnissen, indem er 2011 über 48 Prozent holte und 2015 über 45.

Einer jüngsten Umfrage im Auftrag des „Hamburger Abendblatts" zufolge erreicht die SPD derzeit 30 Prozent. Die CDU liegt bei 14 Prozent, die Grünen bei 24, Linke bei elf, FDP bei neun und die AfD bei sieben Prozent. Verglichen mit dem Bundestrend befinden sich Hamburgs Genossen nach wie vor in einer komfortablen Lage. Auch helle sich die Stimmung nach dem gerade erfolgten Aufschwung der Bundes-SPD „langsam wieder auf", betont ein Genosse.

So ist ferner der Auftritt der Spitzenkandidaten entscheidend für das Abschneiden bei der Bürgerschaftswahl. Bei der SPD gibt es offiziell zumindest „keine Anzeichen dafür, dass der Amtsinhaber", Bürgermeister Tschentscher, „nicht auch als Spitzenkandidat antritt". Sollte die SPD bei der Bezirkswahl allerdings eine empfindliche Niederlage erleiden, wird der Ruf nach Melanie Leonhard lauter werden. Die Landesvorsitzende und Sozialsenatorin genießt parteiübergreifend einen hervorragenden Ruf, wird als „äußerst klug und talentiert" beschrieben, sei zudem offen für neue Bündnisse.

Bekannt ist, dass Leonhard ohne Koalitionsaussage in den Bürgerschaftswahlkampf gehen möchte. Wegbegleiter und Beobachter sehen darin einen deutlichen Hinweis auf das Verhältnis zwischen SPD und Grünen, das nach fünf Jahren kriselt. Im November wollen die Sozialdemokraten auf zwei Parteitagen die Landesliste und das Programm beschließen.

Bei der CDU haben sich Landeschef Roland Heintze und der Fraktionsvorsitzende André Trepoll auf den Bundestagsabgeordneten Marcus Weinberg als Spitzenkandidaten festgelegt. Ursprüngliche Wunschkandidatin war die frühere niedersächsische Sozialministerin Aygül Özkan, die jedoch aufgrund einer schweren Erkrankung ihre Zusage zurückziehen musste.

Nach Absagen weiterer Anwärter soll nun der Großstadtliberale Weinberg „retten, was noch zu retten ist und ein achtbares Ergebnis holen", wie manche Christdemokraten hoffen. Nach den Hamburger Frühjahrsferien, also Mitte März, soll Weinberg offiziell vorgeschlagen werden. Zuvor muss der Kandidat noch den internen Gremien vermittelt werden.

Dabei ist der 51-Jährige, Mitglied im CDU-Bundesvorstand, durchaus parteikompatibel, pflegt gute Kontakte zu den Grünen, der SPD und der FDP. Ein breites Bündnis ist derzeit auch die einzige Chance für die Hamburger CDU, überhaupt Regierungsverantwortung zu übernehmen. Dass dies unter grüner Führung erfolgt, ist nicht mehr ausgeschlossen. Denn auch in Hamburg werden die Grünen, allen voran ihre bereits gekürte Spitzenkandidatin Katharina Fegebank, immer beliebter. Die Zweite Bürgermeisterin und frisch gebackene Zwillingsmama strahlt für viele Hamburger jene Bürgernähe aus, die sie bei Tschentscher vermissen.

FDP zerfleischt sich gern selbst

Offen für beide Volksparteien ist auch die FDP, sollte ihr der Verbleib in der Bürgerschaft gelingen. Die mittlerweile etablierte Fraktionsspitze aus Anna von Treuenfels-Frowein und Michael Kruse scheint den Abgang des einstigen Zugpferdes Katja Suding in den Bundestag kompensiert zu haben.

Ob sich dies im Wahlkampf bestätigt, bleibt abzuwarten - in einer Partei, die sich in Hamburg gerne zerfleischt. Rund um die Europawahl soll feststehen, wer das Gesicht der Liberalen für die Bürgerschaftswahl wird. Dabei deutet vieles auf Treuenfels-Frowein hin. Ein Parteitag im Herbst soll die Spitzenkandidatur absegnen.

Ebenfalls im Herbst wollen die Linken die Personalie festzurren. Die Fraktionsvorsitzenden Sabine Boeddinghaus und Cansu Özdemir stehen auch für diese Aufgabe zur Verfügung, „wenn die Partei es möchte", betonten beide kürzlich im Gespräch mit der „taz". Die AfD sucht noch nach einem Spitzenkandidaten. „Man weiß nie, wer seinen Hut in den Ring wirft", heißt es aus der Partei. Im September sollen die Mitglieder Klarheit schaffen.

Währenddessen hat das Gedränge um die Deutungshoheit über die Themen begonnen, etwa zum Klimaschutz, zur Mobilität der Zukunft, zur Struktur der Schulen. Aufgabe aller Parteien wird sein, die Hamburger wieder für eine Bürgerschaftswahl zu begeistern. 2015 lag die Beteiligung bei 56,5 Prozent. Es war der niedrigste Wert seit 1949.

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