Jana Werner

Autorin und Moderatorin, Hamburg

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Machtkampf um Fraktionvorsitz: „Die Lage in der Hamburger SPD ist chaotisch" - WELT

Hamburg

Machtkampf um Fraktionvorsitz „Die Lage in der Hamburger SPD ist chaotisch"

| Lesedauer: 5 Minuten

Nach der Umbildung in Hamburgs rot-grünem Senat ringt die SPD-Fraktion um einen neuen Vorsitzenden. Das Bild, das sie dabei zeichnet, sei verheerend - sagen Genossen. Es herrsche Chaos.

Kalendersprüche gelten als Weisheiten, die einen durch den Tag begleiten. Es gibt nachdenkliche, lustige und binsenweise. Ein beliebter beispielsweise lautet, dass man etwas erst zu schätzen weiß, wenn man es verloren hat. Ein weiterer: Wenn der Kater aus dem Haus ist, tanzen die Mäuse auf dem Tisch. Gedanken, die für viele Hamburger Sozialdemokraten zur bitteren Realität geworden sind - seit sich Olaf Scholz aus dem hanseatischen Staub gemacht hat, Peter Tschentscher zum Bürgermeister und Fraktionschef Andreas Dressel zum Finanzsenator erkoren wurden.

Die Lücke, die insbesondere Dressel in der Fraktion hinterlassen habe, betonen SPD-Bürgerschaftsabgeordnete, sei riesig, auch wenn „nicht immer alle mit seiner Art einverstanden gewesen" seien. „Aber er hat den Laden zusammengehalten und sehr ordentlich geführt", sagt ein Parlamentarier. Und so gestaltet sich die Suche nach seinem Nachfolger schwierig. „Die Lage ist chaotisch", sagt ein anderer Abgeordneter, „und wer weiß, was in den nächsten Tagen noch passiert". Das klingt nach einer Überraschung.

Je mehr Kandidaten desto besser

Geplant ist, dass die 59 Abgeordneten der SPD-Fraktion am Montag zu ihrer regulären Sitzung zusammenkommen. Auf der Tagesordnung steht gleich zu Beginn die Wahl eines neuen Vorsitzenden. Dass der Fraktionsvorstand nicht wie meist üblich im Hinterzimmer bereits einen Kandidaten festlegte, ist ein willkommenes Zeichen für die Politikverdrossenen.

Je mehr sich zur Wahl stellten, desto besser, heißt es vielerorts. Intern jedoch wird der sich dahinschleppende Prozess gleichwohl mit Sorge beobachtet, weil er zwar nicht die möglichen Anwärter, wohl aber die Fraktion zermürbt.

„Nicht nur, dass wir seit dem Weggang von Dressel keinen Fraktionschef haben. Auch haben wir bis heute keinen klaren Kandidaten für die Nachfolge, der den Staffelstab selbstbewusst übernimmt", kritisiert ein Sozialdemokrat und fügt hinzu: „Stattdessen warten alle ab, was passiert, in der Hoffnung, dass endlich irgendetwas passiert." Seine Schlussfolgerung: „Das Haus ist schlecht bestellt. Wir sind kopflos, führungslos, ideenlos." Ein weiterer Abgeordneter sagt: „Wir führen da ein Trauerspiel auf."

Die heißesten Anwärter auf den Posten sind Milan Pein (44) und Dirk Kienscherf (52). Beide haben ihre Bereitschaft erklärt, beide trauen sich das Amt zu, beide glauben, eine Mehrheit hinter sich vereinen zu können. Der Jurist Pein ist seit 1999 in der SPD, seit 2008 Kreisvorsitzender in Eimsbüttel, seit 2015 Mitglied der Bürgerschaft, aktuell zudem Vorsitzender im G-20-Sonderausschuss. Sein Kontrahent Kienscherf ist Diplom-Kaufmann, seit 1989 in der SPD, beheimatet im Kreis Mitte, seit 2001 in der Bürgerschaft, ferner Stadtentwicklungsexperte sowie parlamentarischer Geschäftsführer.

Während Pein als Favorit der Führungsetage gilt, präferiert die Fraktion Kienscherf. Und das ist einer der Knackpunkte: Denn vielen SPD-Abgeordneten ist sauer aufgestoßen, dass „die da oben" bereits vor Wochen Pein als Dressel-Nachfolger ausgekungelt haben, obwohl „die da unten" Kienscherf für geeigneter halten. Dieser sei zwar „nicht für seine überbordende Geduld bekannt", aber „kompetenter" und „in der Lage, für die Fraktion in die Bütt zu steigen", heißt es aus der Fraktion.

Pein beherrsche „allenfalls die Zwischentöne", habe aber „nicht die Durchsetzungskraft, eine Regierungsfraktion durch Wind und Wellen zu navigieren". Er sei kein Mann der klaren Kante. Fürsprecher jedoch sehen in Pein den „großen Vermittler, dem es gelungen ist, den einst heillos zerstrittenen Kreisverband Eimsbüttel zu befrieden".

Aus Sicht der Pein-Gegner kommt hinzu, dass mit ihm ein weiterer Genosse aus dem linken Lager einen Posten in der Elb-SPD ergattern würde. Denn auch der just gewählte Bürgermeister Tschentscher wird diesem zugerechnet. Und da die neue Landesvorsitzende Melanie Leonhard mit ihrem Kreisverband Harburg in der Mitte angesiedelt ist, scharrt das rechte Lager nun nervös mit den Hufen.

Das rechte Lager fühlt sich zurückgesetzt

Soll heißen: „Wenn der Fraktionsvorsitz in der Bürgerschaft auch noch von einem Linken bekleidet wird, käme die Arithmetik innerhalb der SPD durcheinander. Keine gute Idee", warnt ein Sozialdemokrat. Zwar werde das die Bürger nicht nachhaltig beschäftigten, die Genossen aber schon. Es drohe eine Spaltung innerhalb der Fraktion, weil sich das rechte Lager zurückgesetzt fühle. „In nicht einmal zwei Jahren steht die nächste Bürgerschaftswahl an, da können wir keine Grabenkämpfe und Unsicherheiten gebrauchen", betont ein Abgeordneter.

Das weckt Erinnerungen an ein SPD-Duell, das sich im März 2004 ereignete. Das Bündnis aus Ole von Beusts CDU mit FDP und Schill-Partei hatte die erfolgsverwöhnten Sozialdemokraten in die Opposition verdammt, da stürzte der damals aufstrebende Herausforderer Michael Neumann den arrivierten Fraktionschef Walter Zuckerer.

Mit 21 zu 20 Stimmen setzte sich der Junge gegen den Alten durch - ein Machtwechsel, der mit gegenseitigen persönlichen Verletzungen einherging und die Spaltung innerhalb der SPD vertiefte. Ein Szenario, dass viele Abgeordnete nun auch bei der Kampfabstimmung zwischen Pein und Kienscherf befürchten, wenngleich sich beide bislang schätzen statt zerfleischen. Optimisten gehen davon aus, dass sich der jeweils Unterlegene samt Lager rasch dem Gewinner anschließt.

Gibt es einen dritten Kandidaten?

So wird es die Aufgabe beider Anwärter bis Montag (17 Uhr) sein, die Mehrheit der Abgeordneten für sich zu gewinnen. Ein Wettlauf, bei dem schon so mancher wegen Kurzatmigkeit auf der Strecke blieb. Nicht ausgeschlossen also, dass einer von beiden im Angesicht einer eventuellen Niederlage noch vor der geheimen Wahl aufgibt. Dann müssten dessen Unterstützer - um einen Durchmarsch des jeweils anderen zu verhindern - folglich einen dritten Mann oder eine Frau aus dem Hut zaubern, der beziehungsweise die mehrheitsfähig wäre. Nur wer wäre dazu in der Lage?

Ein Blick auf das Tableau fördert Beobachtern zufolge zwei Namen zutage, die in der Vergangenheit stets ungezogen im Posten-Lostopf schmorten: das Urgestein Mathias Petersen (62) und die Nachwuchshoffnung Dorothee Martin (40). Genossen kommentieren allerdings, dass die Zeit des einen vorbei und die der anderen noch nicht gekommen sei. Rein theoretisch kann sich jeder der 59 SPD-Bürgerschaftsabgeordneten zur Wahl stellen. Von A wie Abaci bis Y wie Yilmaz. „Doch dann wäre das Chaos perfekt", unkt ein Genosse.

Sollte bis zur Fraktionssitzung am Montag kein weiterer Anwärter ins Rennen gehen, läuft es nach derzeitigem Stand auf einen knappen Zieleinlauf zwischen Pein und Kienscherf hinaus. „Noch ist der Ausgang völlig offen. Wir werden sehen, wer es am Ende wird", sagt ein Fraktionsmitglied. Das letzte Wort sei aber noch nicht gesprochen. Und das klingt beinahe wie eine Drohung.

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