Welt am Sonntag: Herr von Dohnanyi, Deutschland hat 2015 mehr als eine Million Flüchtlinge aufgenommen. In Hamburg werden es bis Ende 2016 insgesamt etwa 80.000 sein. Schaffen wir das immer noch?
Klaus von Dohnanyi: Wir haben die Flüchtlinge zum Teil aufgenommen, zum Teil zurückgeschickt. Und es gibt mittlerweile mehr Fälle, die wir auch zurückschicken müssen, etwa die Flüchtlinge vom Balkan. Aufnehmen müssen wir Bürgerkriegsflüchtlinge, das gebietet uns die Genfer Flüchtlingskonvention. Und wir müssen denen Asyl gewähren, die politisch verfolgt werden. Das steht im Grundgesetz und ist europäisches Recht. Dass wir diese Menschen nicht im Wasser vor den Grenzen Griechenlands oder Libyen lassen können, ist doch selbstverständlich. Das Problem ist die Verteilung dieser Flüchtlinge in Europa.
Welt am Sonntag: Aber schaffen wir es auch nach den Übergriffen in Köln und Hamburg immer noch? Die Stimmung in der Bevölkerung verändert sich.
Von Dohnanyi: Ich glaube auch, dass sich die Stimmung verändert. Aber wir dürfen nicht alles nach der Stimmung richten. Wir müssen jetzt die Außengrenzen sichern. Wenn es uns gelingt, in der Türkei, im Libanon, in Jordanien oder an der libyschen Küste Orte zu schaffen, an denen die Flüchtlinge unter menschlichen Bedingungen bleiben können und wo sie nicht mehr den Druck empfinden, über das Wasser nach Europa kommen zu müssen, dann werden wir die Zahlen reduzieren. Dafür müssen wir sorgen und davon müssen wir die Flüchtlinge überzeugen. Das wird eine schwierige und mühsame Aufgabe, weil die Staaten dort auch nur begrenzt aufnahmebereit sind. Aber das ist der einzige Weg, den die Kanzlerin mit Recht beschreitet.
Welt am Sonntag: Folglich missfällt Ihnen der Weg des CSU-Ministerpräsidenten Horst Seehofer, der die Kanzlerin dauernd zur Kehrtwende in der Flüchtlingspolitik auffordert.
Von Dohnanyi: Herr Seehofer geht einen Weg, der eher einem Bauchgefühl entspricht. Dieser Weg funktioniert nicht. Setzen wir eine Obergrenze und schließen die Grenzen, kommen die Menschen in Griechenland an, gehen weiter und wir lassen sie hier vor den Toren Deutschlands, Österreichs oder Kroatiens stehen. Das geht nicht. Wir hätten vieles allerdings vor Jahren erkennen müssen. Denn wir wussten, dass die Türkei mit weniger Einwohnern als Deutschland schon 2,5 Millionen Flüchtlinge aufgenommen hat. Die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik hat die Probleme bereits 1996 vorhergesehen und in einem Bericht für Europa ein gemeinsames Asylrecht gefordert. Die Versäumnisse liegen in der Vergangenheit. Was Frau Merkel jetzt gemacht hat, war aus meiner Sicht unausweichlich.
Welt am Sonntag: Wollten wir diese Entwicklung vor Jahren nicht erkennen?
Von Dohnanyi: Wir erkennen die Größe der Problematik nicht einmal heute. Frau Merkel schon. Deshalb hat sie gesagt, dass es ein mühsamer Weg wird. Der Zustrom ist doch nicht zufällig dadurch entstanden, dass Frau Merkel die Grenze zu einem Zeitpunkt geöffnet hat, als der Druck von außen nicht mehr anders hätte beantwortet werden können. Es handelt sich um einen langfristigen Prozess, der auch mit der Ungleichheit in der Welt, mit der Globalisierung und den neuen Kommunikationsmitteln zu tun hat. Ohne Smartphones gäbe es weder Schlepper noch so viele Flüchtlinge. Wir hätten wissen müssen, was das auslöst.
Welt am Sonntag: Dann hilft uns also keine Obergrenze. Aber viele Helfer sind an ihrer Belastungsgrenze angekommen.
Von Dohnanyi: Wir stoßen immer wieder an Belastungsgrenzen. Und bislang haben wir auch immer wieder Wege gefunden, mit diesen Belastungen fertig zu werden. Wir hatten 2007/2008 eine Wirtschaftskrise, an der wir noch nagen. Wir mussten mit vielen Mitteln eingreifen, um Europa zu stabilisieren. Es sollte heute nicht nur einen Rettungsfonds für Staats- und Bankenschulden geben, sondern auch für Flüchtlingsfragen - und zwar verteilt zwischen den Ländern, die bereit dazu sind. Wenn wir mit diesem Geld den Strom jenseits der europäischen Grenzen stabilisieren, dann werden wir damit auch zurechtkommen. Das ist eine Aufgabe, die wir mit Energie und zusätzlichen Mitteln schaffen können, aber nicht mit einer mechanischen Obergrenze. Dann liefe das Fass eben an anderer Stelle über.
Welt am Sonntag: Es weigert sich doch aber ein Land nach dem anderen, Flüchtlinge aufzunehmen.
Von Dohnanyi: Wenn wir die Flüchtlinge jenseits der europäischen Grenzen halten, dann müssen wir sie auch nicht mehr aufnehmen.
Welt am Sonntag: Also raten Sie der Kanzlerin trotz zunehmender Kritik, keine Kehrtwende einzuleiten?
Von Dohnanyi: Es kann keine erfolgreiche Kehrtwende geben: Flüchtlinge, die nicht nach Schweden weiterkommen, bleiben in Dänemark. Jene, die nicht mehr nach Dänemark kommen, bleiben in Schleswig-Holstein. Die letzten sind dann die Makedonier an der griechischen Grenze. Und wenn die auch zumachen, haben die Griechen eine offene Grenze am Meer. Europa sollte aber endlich Klartext mit den Amerikanern reden. Schließlich haben sie den gesamten Nahen Osten - Afghanistan, Irak und Syrien - destabilisiert, wollen aber jetzt keine Flüchtlinge aufnehmen. Das gefällt mir nicht. Der Präsident der EU-Kommission sollte ein klares Wort an Barack Obama richten, nämlich dass die USA nicht 10.000, sondern mindestens 100.000 Flüchtlinge aufnehmen. Das hat auch der frühere US-Außenminister Henry Kissinger vorgeschlagen. Die USA sollten sich an den Folgen ihrer Politik beteiligen.
Welt am Sonntag: Bewundern Sie die Standhaftigkeit der Kanzlerin?
Von Dohnanyi: Ich finde es immer gut, wenn jemand standhaft ist. Sie ist eine kluge Frau und weiß, dass ein anderer Weg nicht offen ist. Denn dass Griechenland destabilisiert wird, können wir doch nicht wollen! Manche sagen, die Bundeskanzlerin denkt vom Ende her. Das ist auch das einzig vernünftige Denken, wenn man Politik macht. Schließen wir in Deutschland die Grenzen, werden alle anderen mit einem Domino-Effekt folgen - bis auf die Griechen, die das nicht können, weil die Flüchtlinge mit den Schlauchbooten über das Wasser kommen. Es hat in den vergangenen Jahrzehnten nur eine Grenze gegeben, die wirklich gehalten hat: Die Mauer zwischen Ost und West. Da gab es einen doppelten Stacheldraht, Hunde, Scharfschützen und Selbstschussanlagen. Damit könnten wir die Menschen vielleicht fernhalten. Will so was die AfD? Wenn wir das in Europa wollten, dann vielen Dank. Nein. Wir müssen an den Ursachen arbeiten, wie Frau Merkel mit Recht sagt. Dann wird sich das Problem zwar nicht vollends auflösen, aber es wird sich lindern.
Welt am Sonntag: Teile der Bundesregierung glauben immer noch an eine gemeinsame europäische Lösung.
Von Dohnanyi: Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble hat von einer Allianz der Willigen gesprochen, die versuchen sollte, das Problem auch finanziell zu lösen. Das halte ich für richtig. Und ich bin sicher, dass eine Anzahl von europäischen Ländern, unterhalb der Größe der Euro-Zone, bereit dazu wäre. Es wird dennoch Flüchtlinge geben, das hat es immer gegeben. Ich komme aus einer Generation, die ganz andere Flüchtlingsströme erlebt hat. Wir müssen allerdings die Maßstäbe klären, mit denen die Menschen hier leben sollten. Dabei geht es nicht nur um den Respekt vor Frauen, sondern vor unserem Gesetz und unserer Ordnungsliebe ganz generell. Das müssen wir den Flüchtlingen beibringen.
Welt am Sonntag: Wie lange werden die Flüchtlinge noch nach Europa strömen?
Von Dohnanyi: Das ist schwer zu beantworten. Der Druck wird lange bestehen bleiben. Der Westen hat den Nahen Osten inzwischen komplett destabilisiert, auch mit finanzieller Hilfe Saudi Arabiens. Da ist der alte Konflikt zwischen Israel und Palästinensern, der Konflikt zwischen den USA und dem Iran, die Kriege der USA im Irak und in Afghanistan. Die Folgen werden uns noch lange beschäftigen.
Welt am Sonntag: Wird dieses Jahr noch schwieriger als 2015, weil wir die Angekommenen nun integrieren müssen?
Von Dohnanyi: Das hängt davon ab, wie sich die Zahl der Flüchtlinge nun entwickelt. Wenn es gelingt, die Zahl schrittweise, dauerhaft zu reduzieren und die Zusammenarbeit mit den Ursprungsländern zu verbessern, wird die Integration derer, die bereits da sind, funktionieren. Aber so schnell eine so große Menge können wir kaum wieder ertragen. Das wissen wir alle.
Welt am Sonntag: Offenbart der Umgang mit der Flüchtlingskrise, wie weit sich die Politik bisweilen von den Bürgern entfernt hat?
Von Dohnanyi: Nicht alle Bürger können immer eingebunden werden. Die Politik muss manchmal etwas durchsetzen, was im Augenblick unpopulär erscheint, langfristig aber verantwortungsvoll und richtig ist. Würde sich die Politik immer nur nach den Stimmungen in der Bevölkerung richten, wäre das weder für Deutschland noch für Europa gut. Es ist nicht immer alles richtig, was die Mehrheit empfindet. Auch das hat uns die Geschichte gelehrt.
Welt am Sonntag: In Hamburg äußert sich der Widerstand gegen die Pläne des Senats auch insofern, als sich Bürger juristisch gegen Flüchtlingsunterkünfte in ihrer Nachbarschaft wehren. Ist das moralisch verwerflich?
Von Dohnanyi: Das ist moralisch nicht verwerflich, das ist in Ordnung. Gibt es eine begründbare Rechtslage, kann man die auskämpfen. Moralisch verwerflich wäre es, wenn die Politik einknicken würde - nämlich an der Stelle, wo sie glaubt, trotz sorgfältiger Arbeit nicht nachgeben zu dürfen, es aus populären Gründen dennoch tut. Bei der Hafenstraßen-Krise in Hamburg sind damals viele Politiker eingeknickt. Das war ein Fehler. Ich wollte nicht einknicken - aus Sorge, dass vielleicht zwei Teenager vom Dach stürzen, weil die Polizei unten damit beginnt, gewaltsam zu räumen. Hätte ich am Ende keine Mehrheit mehr gehabt, wäre das eben so gewesen. Wer in der Politik nicht bereit ist zu fallen, kann auch nicht stehen. Man muss aber mit den Bürgern reden. Ich bin auch dafür, dass wir mit der AfD offen diskutieren und sie so aus dem Sattel heben. Das ist die Kunst der Politik. Es hat keinen Sinn, gegenteilige Meinungen zu ignorieren. Man muss sich mit ihnen auseinandersetzen und eine harte Debatte führen. Das meiste, was die AfD sagt, ist entweder unanständig oder nicht praktikabel, nicht europäisch, nicht zukunftsorientiert. Denken wir doch einmal weiter: Will die AfD den Lastwagenverkehr zwischen Deutschland und Frankreich wieder kontrollieren? Werden dann am Ende wieder Zölle erhoben?
Welt am Sonntag: Fehlt Politikern von heute der Mut, sich argumentativ auseinanderzusetzen?
Von Dohnanyi: Es fehlt in Deutschland leider oft an Zivilcourage und an dem Mut, sich mit unbequemen Themen auseinanderzusetzen. Wir müssen zum Beispiel mit den Amerikanern viel deutlicher über unsere Interessen reden. Ich meine, es war Kissinger, der sagte, dass Nationen keine Freunde haben, sondern Interessen. Die USA verfolgen in Europa ihre Interessen. Aber sie haben auch zwischen sich und den Unsicherheiten im Nahen Osten oder in der Ukraine Tausende Seemeilen, wir nur wenige Kilometer. Wir brauchen die Bereitschaft, unsere Interessen auch auszusprechen. Der frühere Kanzler Gerhard Schröder hat das gemacht, als er beim Irak-Krieg betonte, dass die deutsche Außenpolitik in Berlin und nicht in Washington gemacht werde. Das war schon ein guter Satz.
Welt am Sonntag: Der Parteienforscher Elmar Wiesendahl spricht von einem neuen Kampf der Kulturen. Er sagt, dass die Flüchtlinge aus rückständigen, partiell feudalen gesellschaftlichen Verhältnissen kommen und dieses Muster mitbringen. Wie sehr wird das unser Land verändern?
Von Dohnanyi: Ja, unser Land wird sich dadurch verändern. Aber ich denke nicht so massiv, wie viele Menschen befürchten. Wir sind 80 Millionen Deutsche und haben gerade etwas mehr als eine Million Flüchtlinge aufgenommen. Wie sehr sich unser Land verändert, hängt dann auch davon ab, wie sehr wir bereit sind, uns so zu öffnen, dass sich die Menschen bei uns zu Hause fühlen. Dann werden sie unsere Lebensgewohnheiten auch akzeptieren. Machten wir es wie die Franzosen in den Vorstädten von Paris, dann entsteht Widerstand.
Der Apostel Paulus, der im Übrigen aus Syrien floh, hat gesagt: „Wenn du Barmherzigkeit übst, tue es mit Freude." Deshalb war unsere Willkommenskultur auch richtig. Wir sollten aber denen, die besorgt sind, mehr Mut machen. Seit ich denken kann, hat sich unsere Gesellschaft total verändert: Die Menschen kaufen immer weniger in kleinen Läden ein, stattdessen im Internet. Die Menschen lesen kaum noch Bücher, aber nutzen soziale Netzwerke. Ein Paar sitzt in einer Gaststätte und statt sich zu unterhalten, spielen beide mit ihrem Smartphone. Wir müssen das zur Kenntnis nehmen. Wir müssen uns umschauen und erkennen, wie sehr sich unsere Welt ohnehin schon verändert - durch Dinge, die wir selbst machen, nicht durch die Flüchtlinge.
Welt am Sonntag: Dabei scheuen Menschen doch Veränderungen.
Von Dohnanyi: Wir scheuen Veränderungen, ja. Deshalb sollten wir die Sorgen der Menschen im Zusammenhang mit den Flüchtlingsströmen zwar ernst nehmen, sie aber auch aufklären. Die wirklichen großen Veränderungen kommen woanders her. Natürlich sind die Flüchtlinge kulturell anders und es wird ihnen schwer fallen, sich in Deutschland zu integrieren. Es fällt aber auch den Amerikanern schwer, ohne einen Colt in der Tasche zu leben. Was uns wirklich in all diesen Fragen fehlt, ist eine unvoreingenommene, mutige und offene Debatte. Es gibt begründbare Sorgen der Menschen vor Zuwanderern und davor, wenn sich zu viele „Fremde" in ihrer Nachbarschaft ansiedeln. Es gibt aber auch begründbare Argumente, diese Sorgen zu entkräften.