Den früheren SPD-Parteichef schmerzt das Abschneiden seiner Genossen bei der Wahl in Schleswig-Holstein. Für eine mögliche Ampel-Koalition im Norden bringt er einen grünen Hoffnungsträger ins Spiel.
WELT AM SONNTAG: Herr Engholm, welche Fehler hat die SPD im Norden gemacht?
Björn Engholm: Die Sozialdemokraten waren sich zu sicher und haben dieses Gefühl nach draußen vermittelt. Das führt immer dazu, dass manche glauben, dass das Rennen schon gelaufen ist. Dabei muss man bis zur letzten Minute alles geben.
WELT AM SONNTAG: Es hat auch inhaltliche Gründe gegeben.
Engholm: Ministerpräsident Torsten Albig ist nicht allein für die Niederlage verantwortlich. Alle sind verantwortlich. Das schließt allerdings nicht aus, dass der Hauptverantwortliche persönliche Konsequenzen ziehen muss. Albig ist kein Wahlkämpfer. Albig ist jemand, der durchs Land fahren und regieren kann, der solide, fast hanseatisch auftritt. Im Wahlkampf ist er mir zu blass gewesen.
WELT AM SONNTAG: Ihm gegenüber stand mit CDU-Kandidat Daniel Günther ein frischer Politiker.
Engholm: Daniel Günther ist als unverbrauchter und angriffslustiger Herausforderer aufgetreten, der nicht mit Bösartigkeiten gearbeitet hat. Das hat Eindruck auf die Wähler gemacht. Außerdem hat er die neuralgischen Punkte getroffen, die die Menschen bewegen: Kita, Schule, Infrastruktur und Energieversorgung. Ebenso punktgenau hätte sich die SPD darauf einlassen müssen. Der Herausforderer war gut beraten.
Albig war offenbar nicht gut beraten. Genossen werfen ihm vor, dass er sein Image und das der Partei WELT AM SONNTAG: mit einem machohaften „Bunte"-Interview nachhaltig beschädigt hat.
Engholm: Es ist schwer zu beantworten, ob dieses Interview ausschlaggebend für die Wahlniederlage der SPD war. Aber ich denke, dass es den einen oder anderen schon verstört hat. Denn spätestens seit einem ähnlichen Fall mit Rudolf Scharping wissen wir doch alle, dass solche Geschichten nicht gehen.
WELT AM SONNTAG: Albig sagt, dass er und seine Ehefrau sich nur noch in „ganz wenigen Momenten auf Augenhöhe ausgetauscht" hätten. Nun lebe er mit seiner neuen Partnerin in einer „recht harmonischen Patchwork-Welt". Ist das zu viel im konservativen Schleswig-Holstein?
Engholm: Das ist zumindest etwas, was man in dieser Form nicht öffentlich, sondern privat austrägt. Was bei Albig passiert ist, ist menschlich. Aber man geht damit sehr dezent um. Man geht damit so um, dass niemand verletzt wird - beispielsweise eine zurückgelassene Ehefrau. Das ist ein Tick zu viel für konservativ-strukturierte Familien im Norden, wo sich der hanseatische Geist breitgemacht hat.
WELT AM SONNTAG: Haben Sie jemals ein derart privates Interview vor einer Wahl gegeben?
Engholm: Nein. Wir haben nur einmal eine Homestory gemacht, als ich noch ein junger Aufsteiger war. Danach haben wir stets versucht, Geschichten wie diese zurück- und die Familie herauszuhalten. In der Barschel-Zeit wurden meine Kinder leider von der Gegenseite miteinbezogen. Und für meine Frau und mich galt stets: Familien müssen geschützt werden, erst recht, wenn sie nicht mehr intakt sind.
WELT AM SONNTAG: Kommt das „Bunte"-Interview der SPD gelegen, um Albig als Sündenbock zu deklarieren und von den tatsächlichen internen Problemen abzulenken?
Engholm: Es mag vorübergehend eine wohlfeile Entlastung sein. Auf Dauer ist es unklug zu behaupten, dass der gegenwärtig schlechte Wahltrend der SPD allein durch Albig verursacht worden ist. Es stimmt auch nicht. Ferner widerspricht es dem Solidaritätsgedanken einer Partei. Man hat auch mit dem Verlierer Solidarität zu üben.
WELT AM SONNTAG: Dahinter steckt aber offensichtlich das Ziel, Kanzlerkandidat Martin Schulz und die „soziale Gerechtigkeit" zu schützen.
Engholm: Das ist ein unausrottbarer Mechanismus, der jederzeit bei allen Parteien vorherrscht. Mich berührt das immer unangenehm. Denn ein bisschen Empathie für den Verlierer und ein bisschen Selbstkritik täte allen gut.
WELT AM SONNTAG: Welche Auswirkungen hatte der Absturz der SPD in Schleswig-Holstein auf die Wahl in Nordrhein-Westfalen?
Engholm: Schleswig-Holstein hat gezeigt, dass die Wahl mit richtigen Landesthemen wie Bildung und Infrastruktur gewonnen und nicht aufgrund eines „Bunte"-Interviews verloren worden ist. Darauf konnten sich die Sozialdemokraten in Nordrhein-Westfalen auf der Zielgeraden besinnen. Sie durften nicht den Eindruck vermitteln, dass Martin Schulz zur Wahl steht. Das war ohnehin ein Fehler, als der Hype um Kanzlerkandidat Schulz entstand und die Sozialdemokraten ihn gleich für jedes Bundesland reklamierten.
„Die Wähler spüren, wenn ein Politiker unmotiviert ist"WELT AM SONNTAG: Also wackelt Hannelore Kraft nicht?
Engholm: Auch in Nordrhein-Westfalen wird es ein Kopf-an-Kopf-Rennen geben. Wenn Kinder hinfallen, stehen sie wieder auf. Das sollten Erwachsene, in diesem Fall die Sozialdemokraten, von ihnen lernen. Es bringt nichts, den Kummer der letzten Landtagswahlen mit sich herumzutragen. Stattdessen müssen sie es bis zum Schluss mit Martin Luther halten: Dem Volk in die Seele schauen, seine konkreten Sorgen, Nöte und Hoffnungen begreifen und seine Sprache sprechen.
WELT AM SONNTAG: Aber woran liegt es, dass nach Schleswig-Holstein auch in Nordrhein-Westfalen ein Regierungswechsel, der vor Wochen noch undenkbar schien, möglich ist?
Engholm: Die letzten positiven Wahlen für die CDU haben Christdemokraten in anderen Ländern hochgradig motiviert. Umgekehrt wirken sich Wahlniederlagen, wie nun für die SPD, demotivierend aus - weit über ein Land hinaus. Das ist ein schleichender Effekt, den ich mehrfach erlebt habe. Denn Motivation ist alles. Die Wähler spüren, wenn ein Politiker unmotiviert ist, sie riechen das - ebenso die Aura von sympathischer Siegesgewissheit.
Ihr Kanzlerkandidat Schulz ist indes auf dem Boden der Tatsachen angekommen: War der Schulz-Effekt ebenso überzogen wie WELT AM SONNTAG: nun der Schulz-Defekt?
Engholm: Es darf in der Politik keine Heiligenverehrung geben. Wir haben einen normalen Wahlkampf, in dem es darauf ankommt, dass jemand begreifbare Konzepte anbietet.
WELT AM SONNTAG: Ist Schulz noch immer der richtige SPD-Kanzlerkandidat?
Engholm: Es gibt keine Alternative. Er ist unverbraucht, hat eine klare und gute Sprache, hat Ecken und Kanten. Er hat politische Kompetenz und ist ein überzeugter Europäer, was in diesen Tagen von großer Bedeutung ist. Ich setze voll auf ihn. Die Sozialdemokraten dürfen sich nur nicht zu sicher fühlen, dass sie die Wahl schon gewonnen haben. Wir werden darum ringen müssen. Wenn Martin Schulz die richtigen Themen setzt, auf dem Teppich bleibt, sich in Bescheidenheit übt und Empathie für die Menschen aufbringt, kann er es schaffen.
WELT AM SONNTAG: Was sind die richtigen Themen?
Engholm: Schulz liegt im Trend, wenn er beim Thema Gerechtigkeit erklärt, was das für welche Menschen bedeutet. Es muss eine Gerechtigkeitsarchitektur schaffen, die jenem Drittel in unserem Land hilft, das keine Zukunftschancen mehr für sich sieht. Das beginnt bei der frühkindlichen Bildung über die Schule bis zur Aus- und Weiterbildung. Wir brauchen eine Gerechtigkeitsarchitektur, in der alle frei und im Rang ihrer Würde und Chancen gleich sind. Zudem müssen wir Bildung insgesamt, Forschung und Wissenschaft mehr vorantreiben, ebenso die Bereiche Verkehr, Energie und Digitalisierung.
WELT AM SONNTAG: Zurück nach Schleswig-Holstein: Während Albig bei der SPD vor dem Aus steht, hat sich Ralf Stegner mit sozialistischer Quote erneut den Fraktionsvorsitz einverleibt. Aber sind nicht beide nun untragbar?
Engholm: Stegner hat Fraktion und Partei sehr gut koordiniert, zusammengehalten und stark gemacht. Seine Leistung ist unumstritten. Die Frage ist, ob der Landes- und Fraktionschef eine Mitverantwortung für das Wahlergebnis trägt. Meine Antwort ist: Auf Stegner können wir nicht verzichten.
WELT AM SONNTAG: Auf Albig schon?
Engholm: Die Frage muss sich Albig selbst beantworten. Wenn man so ein Wahlergebnis erreicht hat, weiß man, dass man nicht unbedingt der nächste Ministerpräsident sein kann.
WELT AM SONNTAG: Müsste die SPD dann nicht zwangsläufig den Nachwuchs ins Rampenlicht rücken, zum Beispiel den Kieler Oberbürgermeister Ulf Kämpfer?
Engholm: CDU-Kandidat Daniel Günther hat bewiesen, dass ein Newcomer viel bewegen kann. Offensichtlich sind diese Typen die Zukunft in der deutschen Politik. Auch die Arrivierten in der SPD müssen sich fragen, wann es Zeit ist, Jüngeren Platz zu machen.
WELT AM SONNTAG: Welche Koalition soll Schleswig-Holstein bis 2022 regieren: Jamaika oder Ampel?
Engholm: Eine Ampel hätte eine gute Chance. Die Grünen um Robert Habeck haben hervorragend gearbeitet. Und FDP-Kopf Wolfgang Kubicki ist ein Talent, ob man ihn mag oder nicht. Bleibt die Frage, wer die SPD in einer Ampelkoalition führt? Darauf habe ich keine Antwort.
WELT AM SONNTAG: Schleswig-Holstein könnte es wie die Dänen machen, indem eine kleinere Fraktion den Regierungschef stellt - im Fall einer Ampel etwa Habeck. Wäre das denkbar?
Wenn sich die Ampel darauf verständigt, dass eine kleinere Fraktion den Ministerpräsidenten stellt, dann wäre das eine von den denkbaren und nicht unangenehmen Varianten. Engholm: Robert Habeck ist eine Option. Ich schätze ihn sehr, weil er über den politischen Verstand hinaus kulturell engagiert ist. Er bietet mehr an als das harte politische Instrumentarium. Er ist ein guter Typ. Aber ob sich die anderen auf ihn einigen könnten, vermag ich nicht vorherzusagen. Ich glaube aber, dass die Sozialdemokraten das nicht ertragen könnten. Und die FDP auch nicht.