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Zwischen Jugendstil und Plattenbau

Manche behaupten, die Nachkriegsmoderne hätte mehr deutsche Städte zerstört als der Zweite Weltkrieg. Wegen der utopischen Vorstellung einer funktionalen Planstadt betrieb man umfassende Flächensanierungen – auch liebevoll Kahlschlagsanierung genannt. Ganze Stadtquartiere wurden dem Erdboden gleich gemacht und danach schnell und billig wieder hochgezogen. Weder Energie noch Rohstoffmangel waren ein Thema.
Den Anstoß zu einem entscheidenden Umbruch gab die Internationale Bauausstellung 1984 in Berlin. Vorangetrieben von Architekt Hardt-Waltherr Hämer wurde eine Wende von der destruktiven Flächensanierung zu einer „behutsamen Stadterneuerung“ beschlossen. Dieser Ansatz ließ es zu, in vorhandene Stadtstrukturen hineinzubauen und alte Gebäude zu erneuern. Nach der Wende boten sich gerade in Berlin viele Möglichkeiten: Unzählige leerstehende Wohnhäuser konnten saniert werden, nicht mehr gebrauchte Industriegebäude fanden neue Nutzungen, wenn auch oft nur vorübergehend.
In den neunziger Jahren etablierte sich das Konzept der Um- und Zwischennutzung, das eine ganze Subkultur prägte: Techno. Oft fanden die Raves illegal oder unter Bedingungen statt, die heute keine Aufsichtsbehörde mehr dulden würde – in maroden Kellern, ohne Brandschutz und Fluchtwege. Einige Clubs bekamen Zwischenmietverträge, so der weltberühmte Tresor, der sich nach seiner Location benannte, oder die Bar 25. Das alles war aber nur vorübergehend, provisorisch, und darin lag auch viel vom Charme dieser Orte. Mittlerweile ist das, was einst aus der Not entstand, zum Trend geworden. Das Provisorische, die Bänke aus Paletten, Flohmarktmöbel, Omas alte Lampe – so wird in Berlin heute jede zweite Bar eingerichtet.

Denkmäler profitieren von Umnutzung

Aber nicht nur der Nutzer selbst profitiert von Umbau und Umnutzung. Sie dienen auch dem Erhalt denkmalgeschützter Bauten. Die wenigsten Denkmäler können in ihrer ursprünglichen Funktion erhalten bleiben oder Ausstellungen über ihre eigene Geschichte zeigen. Denkmalschutz und Umnutzung sind besonders für die Bauten wichtig, die gemeinhin eher als „hässlich“ empfunden werden, architekturgeschichtlich aber wertvoll sind – wie die brutalistische St.-Agnes-Kirche, in der sich jetzt die Galerie Johan König befindet. Die Ablehnung gegenüber Bauwerken der Nachkriegsmoderne (und der Sowjetunion) zeigte sich mit dem Abriss eines Stücks DDR-Utopie, dem Palast der Republik. Er zeigte außerdem, wie Politik Denkmalschutz unterlaufen kann. Nun wird dort, wo vor wenigen Jahren noch ein Monument moderner Architektur stand, eine Rekonstruktion des alten Berliner Stadtschlosses errichtet. Fortschritt sieht anders aus. Während der Erhalt kulturell wichtiger Gebäude meist sinnvoll ist, kommt hier nur mehr die Verzagtheit der gegenwärtigen Architektur zum Ausdruck, eine eigene Form zu finden. Und die Angst der Kulturpolitik, Experimente zu wagen. Unterdessen wird an anderer Stelle auch die jüngst noch verhasste Siebziger-Jahre-Architektur im milden Licht der Vergangenheit wahrgenommen und als erhaltenswert betrachtet.

Nachhaltiges Bauen

Technologische Aspekte schreiten voran. In einer Zeit, in der Nachhaltigkeit ein immer größeres Thema wird, hat Umnutzung noch einen anderen Wert: Sie ist umweltbewusst. Bauen im Bestand ist unerlässlich, denn Gebäude binden Energie und Rohstoffe in hohem Maße. Bevor ein Haus abgerissen wird, liegt der Blick bestenfalls nicht nur auf den Kosten – die sind bei einer Sanierung ohnehin meist geringer als beim Neubau –, sondern auch auf der sogenannten grauen Energie. Das ist die Energie, die bereits aufgewendet wurde, um das Bauwerk zu errichten. Ein Trend nachhaltigen Bauens geht dahin, bei einem Neu- oder Umbau einzuplanen, wie man die Rohstoffe später wiederverwerten oder die Immobilie umnutzen kann.
Wie wichtig dieses Vordenken für die weitere Nutzung von Gebäuden ist, zeigen heutige Versuche, Bürohochhäuser in Wohnhäuser umzuwandeln. Da die Gebäude einer komplett neuen Infrastruktur (Erschließungswege, Bäder, Licht) bis hin zu einer Umgestaltung der Fassade für Balkone bedürfen, ist dieses Vorhaben nicht leicht. Es ist aber auch nicht unmöglich. Die französische Architektin Anne Lacaton setzt in Paris seit den neunziger Jahren solche Projekte mit großem Erfolg um und auch in Berlin zeichnet sich eine Entwicklung in diese Richtung ab. Gerade wird der Postbank Tower am Halleschen Ufer zu einem Wohnhaus umgebaut, in dem 720 Apartments entstehen sollen. Auch er ist ein Bauwerk der Nachkriegsmoderne.