Jana Petersen

Redakteurin, Autorin, Dozentin, Berlin

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Von Schwärmen

/ Reihe 5, Das Magazin der Staatstheater Stuttgart / Essay / Dezember 2016

Es gibt Ballette, in denen schmelzen alle dahin, Junge und Alte, Bürger und Rebellen. Das erstauliche daran: Es sind meist die traditionellen Stücke des 19. Jahrhunderts. Warum ist das so? Wir ergründen ihren Zauber. 


Kein Bonbonpapier knistert. Niemand hustet. Nichts raschelt. 1400 Menschen blicken auf die Bühne, regungslos. Es scheint, als würde ihr Atem flacher, ihr Puls ruhiger, als würden sich Millionen Härchen auf den Unterarmen all dieser Menschen zugleich aufstellen. Es scheint, als habe sich selbst die Beschaffenheit der Luft verändert, als würden die Staubteilchen erhabener zu Boden schweben. Wir sind im Zuschauersaal des Staatstheater Stuttgart, es ist ausverkauft, und vorne auf der Bühne tanzt das Corps de Ballet den 4. Akt von Schwanensee.

Es ist erstaunlich. Wenn das Stuttgarter Ballett klassische Handlungstücke tanzt, ist der Saal in jeder Spielzeit voll. 99,9 Prozent ist die durchschnittliche Auslastung. Um auch jungem Publikum Zugang zu Ballett von hohem Niveau zu ermöglichen, haben Studierende in den Generalproben freien Eintritt. Sie sehen gern moderne Inszenierungen, dort ist der Andrang groß, aber – und das verblüfft auch für Mitarbeiter der Staatsbühne: Noch lieber gehen die jungen Menschen in Dornröschen und Schwanensee. In diesen Stücken des klassischen Standardrepertoires sind die Gratiskarten besonders schnell weg.

Die klassischen Werke werden im Stuttgarter Ballett grundsätzlich traditionell inszeniert. „Wie es sich gehört“, sagen manche. Die Stoffe sind fest im 19. Jahrhundert verankert, das soll man ruhig sehen. Es rüscht, es glitzert, es schwelgt. Tüll, Spitze, Krönchen, Blüten. Zu viel auf zu kleinem Raum. Das Lächeln sitzt. Das Tutu wippt. Harmlos kommt das alles daher. Angestaubt gar. Nicht gerade zeitgemäß, nicht radikal – gefällig, könnte man sagen. Doch offenbar ist es gleichgültig, wie altbacken die Kostüme, die Bühne, vielleicht auch die Musik wirken: Die Menschen sind gerührt. Entrückt. Ergriffen.

Warum ist das so? Was passiert da auf der Bühne – und warum sind es vor allem Ensembleszenen, die den Zuschauern so nahe gehen, die Szenen, in denen die Gruppe tanzt, zwanzig, dreißig Tänzerinnen zugleich? Die scheinbar sinnfrei sind, die Handlung nicht voranbringen. Der 4. Akt von Schwanensee etwa, Odette inmitten der Schwäne. Die Weiße Szene in Don Quijote, eine getanzte Vision, das Ensemble umrahmt die Solistin. Der 2. Akt von Giselle, der Geist von Giselle tanzt zwischen den untoten Fabelwesen. Szenen, in denen sich die Schwingung der Teilchen im Staatstheater zu ändern scheint.

Natürlich ist da der Inhalt der Stücke, Prinz Siegfried in Schwanensee, der Schein und Sein nicht unterscheiden kann und damit Menschen vernichtet. Prinz Albrecht in Giselle, der dem Bauernmädchen aus Langeweile das Herz bricht. In diesen Geschichten steckt ein Kern menschlicher Wahrheit. Die immer wiederkehrenden Erzählungen von Liebe und Tod, Begehren und Verrat, Hingabe und Kontrolle.

Da ist das ausgereifte Zusammenspiel von Musik und Bewegung, vor Jahrhunderten erdacht. Und da ist die schier übermenschliche Perfektion, Schultern, Arme, Füße, jeder Finger ist im gleichen Winkel abgespreizt, Köpfe senken sich, heben sich, vierzig, fünfzig Arme schweben, schreiben Kreise in die Luft, Beine im perfekten 30 Grad-Winkel, selbst die Blicke sind synchron. Die Ästhetik der Symmetrie.

Symmetrie ist der Widersacher des Chaos. Sie scheint ein Grundbedürfnis zu sein. Schon Säuglinge bevorzugen Symmetrie. Je symmetrischer ein Gesicht, desto attraktiver wirkt es. Kristalle, Zellen, Blätter sind symmetrisch. Die Verästelung der Bäume, der Aufbau von Blütenständen folgt der Formel des Goldenen Schnitts. Ab einer bestimmten Hertz-Frequenz verhalten sich Sand und Wasser auf Metallplatten symmetrisch, sie bilden geometrische Muster von großer Schönheit, ähnlich den buddhistischen Mandalas. Gravitatonsphysiker gehen davon aus, dass die Welt im Moment ihres Entstehens hochsymmetrisch war – und durch Abkühlung und Expansion immer ungeordneter wird. Quallen, die einzelne Arme verlieren, strukturieren binnen zwei Tagen ihren Körperbau um, um wieder eine Symmetrie zu erreichen – eine Strategie zur Selbstheilung.

Doch es kommt noch etwas anderes hinzu. Auf der Bühne kennt jede Tänzerin ihren Weg, folgt einem Plan, sie formen Parallelen, dann Diagonalen, jetzt einen Kreis, sie laufen durcheinander und wieder entsteht eine Struktur, ein Muster, eine Ordnung. Sie wirken wie ein Schwarm von Staren, die in übergeordneter und spontaner Logik miteinander verbunden sind, die in Millisekunden auf ihre Nachbarn reagieren, verknüpft durch feinste Nervensensoren. Ein Phänomen, dass sogar einen eigenen Namen hat, Murmuration nennen Forscher dies Schauspiel. Die Stare erschaffen in ihrer Vielheit etwas neues: Der Schwarm selbst wird zum Wesen.

Und wenngleich die Formen im klassischen Ballett alles andere als spontan sind – so ist doch das die Botschaft der Gruppenszenen: Allein sind wir verloren. Allein sind wir der eine Hering im Atlantik, der eine Star auf dem Weg nach Rom. Angreifbar, ausgesetzt. Allein werden wir sterben.

Es ist die Sehnsucht nach Verbindung. Danach, Teil eines großen Plans zu sein, einer Ordnung, in der alles seinen Platz hat und jede seine Funktion. Verbunden wie Chorsänger, deren Herzen beim Singen die gleiche Frequenz einnehmen, deren Nervenaktivität und deren Bewegungen der Muskeln im Moment des gemeinsamen Singens synchronisiert sind. Verbunden wie meditierende Mönche. Verbunden wie Stare im Schwarm. Diese klassischen Gruppenszenen sind die Gegenthese unserer Zeit. Das Gegenteil von Chaos. Das Gegenstück zur Individualisierung.    

Vielleicht hat der Choreograf Georges Balanchine genau das gemeint, als er einmal  sagte, das Corps de Ballet sei wie ein religiöses Kollektiv, wie eine Gruppe von Nonnen. Darin steckt auch die Erkenntnis, das es ein gewisses Entsagen braucht, um Teil eines übergeordneten Ziels zu sein. Die Auflösung der Individualität zugunsten einer größeren Idee. Mehr als die Summe der einzelnen Teile.

Vielleicht ist die Funktion dieser Szenen, dass sie keine Funktion haben. Keine, die sich in Gänze rational erklären ließe. Sie führen zu nichts, außer zur Auflösung des Ichs, zur Verschmelzung ins Wir. Sie sind die Absage an das Ziel. Sie sind die Ergriffenheit selbst.