Der öffentlich-rechtliche Sender lässt falsche Behauptungen zur Verbreitung des Coronavirus unwidersprochen stehen. Damit geht die Redaktion denen auf den Leim, die gelernt haben, wie man den öffentlichen Diskurs hackt. Ein nachträglicher Faktencheck kann den Schaden nicht wieder gut machen. Ein Kommentar.
Der Hessische Rundfunk nimmt die aktuellen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie zum Anlass, den Corona-Leugner Sucharit Bhakdi zu interviewen. So wichtig kritische Berichterstattung über die Sinnhaftigkeit und Wirksamkeit von Ausgehbeschränkungen ist, mit Bhakdi als Gast ist der Sender einen Schritt zu weit gegangen.
Bhakdi war bis 2012 Professor für Epidemiologie an der Universität Mainz. Seit Beginn der Corona-Pandemie fällt er durch Falschaussagen auf, die er öffentlichkeitswirksam transportiert und die bei Corona-Leugner:innen auf große Resonanz stoßen.
Wiederholt haben Journalist:innen seine Aussagen zum Corona-Virus widerlegt ( ZDF, correctiv.org, Süddeutsche Zeitung, maiLab). Auch sein ehemaliger Arbeitgeber, die Universität Mainz, distanzierte sich mittlerweile von Bhakdis Aussagen. Dennoch hat hr-info Bhakdi als Gesprächspartner eingeladen.
Die gehackte ÖffentlichkeitAusgewogenheit ist eines der wichtigsten Prinzipien eines fairen Journalismus - und essentiell für Vertrauen in die Medien. Immer auch die Gegenseite hören, darauf sollten Journalist:innen nie verzichten.
Doch dieses lobenswerte Konzept kann leider gehackt werden. Auf der verzweifelten Suche nach der Mitte, dem neutralen Punkt zwischen den Positionen, gehen Journalist:innen viel zu häufig denen auf den Leim, die den Diskurs mit Tabubrüchen und Falschbehauptungen auf ihre Seite verschieben wollen.
Wer Nachrichtenjournalismus macht und sich selbst als objektiv begreift, ist in den heutigen Zeiten dazu aufgerufen, die Grenzen, innerhalb derer er die Mitte sucht, klar zu ziehen. Dann ist es egal, was außerhalb an Extremismus oder Falschinformationen geschieht, wie weit sich Akteure von diesen Grenzen wegbewegen. Belohnt werden sollte nicht, was laut ist und Tabus bricht oder was die Algorithmen in sozialen Netzwerken besonders gerne auswählen.
Geringere Reichweite von FaktenchecksEinerseits sind diese Grenzen die der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Journalist:innen haben sich kritisch mit allen zu beschäftigen, die sich außerhalb dieser Grenzen bewegt, seien es Aktivist:innen oder der Staat selbst. Egal ob sie die Demokratie aus ideologischen Gründen ablehnen oder sie mit verfassungswidrigen Überwachungsgesetzen unterhöhlen. Die Sache, mit der Journalist:innen sich gemein machen sollten, ist die Demokratie.
Andererseits markieren diese Grenzen aber auch den Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge. Und den haben Journalist:innen ebenso klar zu benennen und sich von Falschinformationen zu distanzieren. Genau das hat hr-info im Interview mit Sucharit Bhakdi versäumt. Es wurde weder eingeordnet, dass sich Bhakdi seit Beginn der Pandemie meilenweit von jeglicher Evidenz entfernt hat, noch wurden die Thesen, die er im Interview selbst verbreitet, kritisch beleuchtet.
Halbherzige Nachfragen der Moderatorin sind kein Widerspruch und ein nachträglicher Faktencheck, den hr-info mittlerweile angekündigt hat, erreicht immer weniger Menschen als das Produkt selbst. In Zeiten von Netzkommunikation versanden Faktenchecks oft im Nirgendwo.
Viele Menschen lesen nur Überschriften, wenn sie durch ihren Newsfeed scrollen. Im Falle von hr-info stolperten sie dann über die Falschinformation „Es gibt keine erhöhte Zahl von Erkrankungen", die Sucharit Bhakdi im Interview aufstellt.
Mittlerweile hat der Hessische Rundfunk die Überschrift ausgetauscht und dem Beitrag auf der Website einen redaktionellen Hinweis beigefügt, in dem ebenfalls der Faktencheck angekündigt wird:
Einige Aussagen von Herrn Bhakdi sind kritisch zu hinterfragen und entsprechen nicht dem, was in der Wissenschaft weitgehend Konsens ist. Wir werden diese Aussagen zeitnah einem Faktencheck unterziehen und diesen hier veröffentlichen.
Um Missverständnissen vorzubeugen, haben wir das bei der Erstveröffentlichung des Podcasts im Titel verwendete Zitat ersetzt.
Auf Twitter schreibt die Redaktion von hr-info, dass sie die Kritik nachvollziehen könne:
Wir können die Kritik nachvollziehen. Klar ist: Wir können das besser. Klar ist aber auch: Wir sind Menschen - und damit nicht unfehlbar. Was uns als verantwortungsvollen Journalist*innen bleibt, ist Transparenz zu zeigen und die Aussagen einem Faktencheck zu unterziehen.Verantwortung für wissenschaftliche Laien
Doch das reicht nicht aus. Corona-Leugner:innen können das Interview weiterhin problemlos online verbreiten und gegenüber der gesellschaftlichen Mehrheit, die offizielle Informationen nicht leugnet, durch die Glaubwürdigkeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sogar noch Boden gut machen. Den nachträglichen Faktencheck werden sie großzügig ignorieren.
Und hier sind wir beim Kern des Problems: Nicht alle Menschen, die Bhakdi Glauben schenken, haben ideologische Gründe oder führen Böses im Schilde. Sie tun eigentlich alles, was ihnen beim Bewerten von Fakten immer empfohlen wurde. Sie berufen sich auf einen Mann, der Professor an einer anerkannten Uni war. Diesen ersten Reputationscheck nehmen viele der Menschen vor, die sich auf Bhakdis Thesen beziehen.
Viel mehr kann man von wissenschaftlichen Laien auch nicht erwarten. Wer sich nicht akademisch oder zumindest regelmäßig journalistisch mit Virologie und Epidemiologie auseinandersetzt, kann die Evidenz von Bhakdis Behauptungen nicht prüfen, weiß nicht, welches Ansehen Bhakdi in Fachkreisen (nicht) genießt. Man kann nicht erwarten, dass Laien zwischen der Glaubwürdigkeit von Virologe Christian Drosten und Epidemiologe Sucharit Bhakdi unterscheiden können.
Tragische FahrlässigkeitUnd genau das ist die entscheidende Aufgabe der Medien in derartigen Krisensituationen. Einschätzen, einordnen, informieren. Ich muss mich als Laie darauf verlassen können, dass ein Wissenschaftler, der von seriösen Journalist:innen interviewt wird und dessen Thesen in diesem Interview unwidersprochen und unwiderlegt bleiben, keinen Mist verzapft. Es ist der Job der Redaktion, so etwas vorher zu prüfen.
Ich will hr-info gar nicht unterstellen, diese Prüfung nicht vorgenommen zu haben. Bhakdi trotzdem diese Bühne zu geben, zeugt aber von einer mindestens genauso tragischen Fahrlässigkeit. Denn genau das ist das Ziel derer, die Verschwörungsmythen und Falschinformationen über Corona verbreiten.
Das ist auch das Ziel von Impfgegner:innen und Klimawandelleugner:innen. Sie wollen Unsicherheiten schaffen, wem oder was man noch vertrauen kann, wer oder was noch glaubwürdig ist. Damit untergraben sie das Vertrauen in die Wissenschaft und letztendlich auch wieder das Vertrauen in die Medien. Der Hessische Rundfunk sägt auch am eigenen Ast, denn auch dort findet guter (Wissenschafts-)Journalismus während der Corona-Pandemie statt.
Update:
Mittlerweile hat der HR den angekündigten Faktencheck veröffentlicht.
Aus einem weiteren Statement des Hessischen Rundfunks geht hervor, dass der HR die Sendung gar nicht selbst produziert hat. Das Interview mit Sucharit Bhakdi lief ursprünglich in der ARD Infonacht, die der Mitteldeutsche Rundfunk produziert und die bundesweit ausgestrahlt wird. Die Interviewfragen nahm die HR-Moderatorin nachträglich auf. Die ursprünglichen Fragen des MDR-Moderators zeigten die fehlende Evidenz deutlicher auf als die nachgesprochenen Fragen des Hessischen Rundfunks. Der HR bedauert in seinem Statement nicht die Ausstrahlung des Interviews selbst, sondern nur die Übernahme der Sendung ohne Quellenangabe.
Dieses Statement irritiert massiv. Nachdem die Tweets der hr-info-Redaktion gestern den Eindruck erweckten, dass die Verantwortlichen den Auftritt Bhakdis an sich als Fehler sehen, stiehlt sich der Hessische Rundfunk mit seinem Statement aus der Verantwortung und schiebt sie dem Mitteldeutschen Rundfunk zu. Für diese Anstalt gilt natürlich ebenfalls, dass es problematisch ist, Falschaussagen überhaupt eine Plattform zu geben.
Zum Problem der Plattform für Falschaussagen kommen nun also noch ein Transparenzproblem und ein Glaubwürdigkeitsproblem hinzu. Der Fall wird von Gegner:innen und Kritiker:innen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks immer wieder hervorgekramt werden. Der HR erweist seinen eigenen seriös, transparent und fundiert arbeitenden Mitarbeiter:innen mit diesen Praktiken und dem nicht besonders souveränen Umgang einen Bärendienst.
Am Lerneffekt der Rundfunkanstalt darf gezweifelt werden, da die hessenschau in einem Artikel, der erst nach den zerknirschten Tweets von hr-info online erschien, Bhakdi weiterhin ohne Einordnung zitiert.
Der Mitteldeutsche Rundfunk hat mittlerweile auch einen Faktencheck veröffentlicht. Erfreulicherweise nicht wortgleich mit dem des Hessischen Rundfunks, obwohl sich beide Anstalten den Experten, Gert Uwe Liebert von der Uniklinik Leipzig, teilen.