Von Haiti nach Japan und über Libyen in den Sudan. Reporter in Krisengebieten riskieren ihr Leben, sind psychischem Druck ausgesetzt – und kosten die Redaktionen eine Menge Geld. Hierzulande mangelt es an Ausbildung. Es dominiert die Analyse aus der Ferne.
Von Jan Söfjer
Schwer zu sagen, nach der wievielten Leiche etwas in dem Kameramann zerbrach. Tagelang wanderte er durch die Totenlandschaft Haitis. Die Opfer nach dem Erdbeben ließen sich nicht mehr zählen. Heute weiß man, dass mindestens 230.000 Menschen ums Leben kamen. Der Zeit-Reporter Wolfgang Bauer sah den Mitarbeiter eines deutschen Privatsenders eines Abends im Hotel von Port-au-Prince sitzen. "Völlig bleich saß er da, begann zu weinen." Der Kameramann hatte in seinem Leben noch nie zuvor eine Leiche gesehen.
Wolfgang Bauer traf nicht zum ersten Mal auf so ein Häufchen Elend in einem Krisengebiet: "Hätte man den Mann besser vorbereitet und nicht gleich in die Mitte des Alptraums geschickt, hätte er diese großen Probleme nicht gehabt." Der 40-Jährige ist empört, wie wenig in Deutschland über Krisenjournalismus gesprochen wird und wie schlecht viele Reporter auf Einsätze im Ausland vorbereitet sind. Auch deswegen hatte Bauer eine Einladung des Reporter-Forums angenommen: Im Spiegel-Hochhaus in Hamburg erzählte er diesen Sommer – im Jahr des arabischen Frühlings – von Greenhorns ohne Geld und Auftrag an der libyschen Front, von den wenigen Reportern, die überhaupt in Krisengebiete geschickt würden, von mangelnder Nachwuchsausbildung und desinteressierten Redaktionen."Die Krisenberichterstattung ist die Achillesferse des deutschen Journalismus", sagt Bauer.
Christoph Maria Fröhder kennt das alles. Der 68-Jährige hat jahrzehntelang im Auftrag der ARD gearbeitet. Immer als Freiberufler. "Ich wollte damals aus der Provinzialität raus", sagt er. Die Landesrundfunkanstalten von SWR bis NDR haben die Regionen der Welt untereinander aufgeteilt. "Wenn man international arbeiten und auch mal das Krisengebiet wechseln möchte, muss man raus aus den kleinen Kästchen, die sich die ARD gebaut hat", sagt Fröhder und spricht über "unverständliche Eifersüchteleien". "Wenn ich in Afghanistan auftauche, wird der Korrespondent des MDR protestieren, in Deutschland anrufen und versuchen, fest abgesprochene Geschichten zu torpedieren, und sagen: Das kann ich auch."
Fröhder hat aber auch gute Erinnerungen an die ARD, vor allem an Nikolaus Brender, als der noch WDR-Auslandschef war. Als Fröhder 1991 über den Golfkrieg berichten wollte, versuchte der Süddeutsche Rundfunk (heute: SWR) die Reise im letzten Moment zu kippen, doch Brender sagte: "Fliegen Sie heute Nacht noch los, wie Sie das vorhatten, den Rest mache ich." Und so kam es. Es hänge extrem von den Personen ab, sagt Fröhder. "Ich kenne ARD-Chefredakteure, die Auslandsberichterstattung als lästiges, teures Beiwerk sehen."
Wolfgang Bauer sagt: "Als ich in Libyen war, gab es dort so gut wie keine deutschen Journalisten." Irgendwann traf er doch den ein oder anderen. Etwa Christoph Reuter, damals beim Stern, oder Jonathan Stock, der für Spiegel Online unterwegs war, die deutschen Redaktionen seien "entsetzlich unterrepräsentiert". Dafür traf er einen Sozialarbeiter aus Bielefeld mit libyscher Herkunft, der an die Front fuhr, um zu kämpfen. In Ras Lanuf begegnete er einem Team der New York Times, das mit acht Leuten vor Ort war. Sogar Polen soll mehr Journalisten als Deutschland nach Libyen geschickt haben. Die deutschen Redaktionen hätten wie auch die deutsche Außenpolitik ein gespaltenes Verhältnis zu Krisengebieten, so Bauer. Und seien TV-Journalisten vor Ort, würden sie, sobald es ein bisschen haariger werde, schnell abgezogen, während die BBC genau dann ihre besten Journalisten reinpumpe.
Auch die Betreuung durch die Heimatredaktion scheint in Großbritannien besser zu laufen. An der ägyptisch-libyschen Grenze schloss sich der Zeit-Reporter einem britischen Redaktionsteam an. Eine Einsatzzentrale in London kümmerte sich rund um die Uhr um ihre Reporter. "Wir konnten etwa fragen, wie die Sicherheitslage zwischen Al-Baida und Bengasi ist oder ob es ratsam sei, in einem bestimmten Hotel zu übernachten. Davon habe ich sehr profitiert."
Beim ZDF haben sie auch so eine Zentrale, seit der Sender rund um den 11. September 2001 gemerkt hat, dass sich manche Ereignisse anders nicht mehr bewältigen lassen. Grotte heißt der dunkle Raum. Er erinnert ein wenig an ein Nasa-Kontrollzentrum. "Im Krisenfall möchten viele Sendungen etwas von den Reportern vor Ort", sagt der stellvertretende ZDF-Chefredakteur Elmar Theveßen. "Alle Fäden laufen dort zusammen. Mit Experten für die Region und wenn nötig rund um die Uhr."
Das Krisenzentrum aus der Heimat
Als Christoph Maria Fröhder 2003 aus dem Irakkrieg für die ARD berichtete, konnte er nicht auf so eine Zentrale zurückgreifen. Sein ZDF-Kollege Ulrich Tilgner schon. Die Grotte war erstmals im Einsatz. Damals hieß sie Café Bagdad. Das Geflecht von taktischen Winkelzügen und Fehlinformationen könne nur durchdrungen werden, schreibt Tilgner im ZDF-Jahrbuch 2003, "wenn der Korrespondent selbst im Krisengebiet systematisch mit Informationen versorgt wird". Die gewonnene Zeit konnte er nutzen, um vor Ort die Stimmung der Menschen zu erkunden. "Ich habe so Informationen bekommen, die ich sonst nicht hätte bekommen können", sagt Tilgner heute, der mittlerweile beim Schweizer Fernsehen arbeitet, weil ihm in der ZDF-Afghanistan-Berichterstattung "die Optik vom Bundeswehr-Einsatzführungskommando zu dominant wurde". Damals war Tilgner so kollegial, seine Informationen an Fröhder weiterzugeben, denn wenn der beim SWR anrief, hatte er häufig jemanden am Hörer, der nicht mal wusste, wie man ins interne Archiv kommt.
Mittlerweile gibt es auch in der ARD professionellere Abläufe. "Nach Haiti haben die ARD-Chefredakteure beraten, wie sie solche Großeinsätze logistisch besser strukturieren können", sagt Tom Sievers, Mitglied der WDR-Chefredaktion und ARD-Krisenkoordinator. "Im Krisenfall richten wir in der zuständigen Landesrundfunkanstalt ein Krisenreaktionszentrum ein, in dem alles gesteuert wird."
Deutsche Zeitungen und Zeitschriften besitzen so einen Luxus nicht oder höchstens in Ausnahmefällen – wie der Stern während des Irakkriegs. Selbst beim Spiegel gibt es keine Krisenzentrale. "Die Ressortleitung Ausland koordiniert unsere Einsätze und ist jederzeit erreichbar; die Chefredaktion wird über alles informiert, was wichtig und eilig ist", sagt Spiegel-Textchef Klaus Brinkbäumer.
Stern-Reporter Christoph Reuter hatte sich, als er in Libyen war, mit einem kleinen Kreis befreundeter Reporter unter anderem von Sydney Morning Herald und Süddeutscher Zeitung eine eigene Nachrichtenzentrale eingerichtet, die von einer Kollegin betreut wurde. Reuter, inzwischen beim Spiegel, sagt: "Das Problem einer Krisenzentrale in der Heimatredaktion liegt auch darin, überhaupt jemanden zu haben, der weiß, was für uns wichtig ist." In Wirklichkeit seien die Redaktionen fast alle viel zu dünn besetzt, viel zu wenig Kollegen würden sich gut genug auskennen.
Martin Gehlen vermisst so eine Zentrale nicht. Der Nahost-Korrespondent mit Sitz in Kairo ist beim Tagesspiegel angestellt, wurde vom Blatt aber "untervermietet", so dass er etwa auch für die Frankfurter Rundschau, WAZ und Südwest Presse schreibt. „So können mittelgroße Zeitungen die Auslandsberichterstattung weiter betreiben, ohne dass sie von den Kosten erschlagen werden", sagt der 54-Jährige. Eine Woche Tripolis kostet 4.000 bis 5.000 Dollar, zu viel für nur eine Zeitung. Auch Martin Gehlen berichtete im Frühjahr aus Libyen: "Ich bin in der letzten Zeit mehr denn je dazu gekommen, Reportagen zu schreiben." Er freut sich, dass die Redaktionen sich derzeit um seine Texte reißen, zum Tahrir-Platz kann er zu Fuß gehen. "Wann hat man schon eine Revolution vor der Haustür?" Aber als Tageszeitungs-Korrespondent mache er auch viel für das Tagesgeschäft: Kommentare, Porträts, Berichte. Alle Zeitungen, die er beliefert, haben ihre Wünsche. Das engt auch ein.
Dennoch gibt es genug Krisen, die wenig Beachtung finden, und falls man doch etwas über sie liest, berühren die Sätze einen kaum: "Nach Einschätzung der UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR sind in Abyei schon fast 100.000 Menschen vor den nordsudanesischen Truppen geflohen und haben sich im Busch versteckt." Was hinter diesem Satz steckt, das wahre Leid, bleibt nebulös. Ein klassisches Krisenreporter-Thema. Es gibt zwar Journalisten, die mit Außenminister Guido Westerwelle ein paar Stunden im Sudan waren, von dem Drama haben sie aber nichts mitbekommen. Und die Hungersnot in Somalia? In der öffentlichen Wahrnehmung kaum mehr als ein Foto, das ein mageres Kind in einer Badeschüssel zeigt.
"Erst an der Front versteht man die Natur des Konflikts", sagt Wolfgang Bauer. "Stattdessen bedienen wir uns in Deutschland zunehmend der Agenturmeldungen und analysieren aus der Ferne." Es sollte in jeder größeren Redaktion mehr als einen Journalisten geben, der systematisch zum Krisenreporter aufgebaut werde. Aber daran schließt sich das nächste Problem an: Wie bildet man zum Krisenreporter aus? Viele haben ihre Erfahrungen autodidaktisch gemacht, Schritt für Schritt. Doch Fehler können im Krisengebiet tödlich enden. Es fehlt an Erfahrungsaustausch, wie ihn etwa der Frontline-Club in England betreibt.
Der Axel Springer Verlag erarbeitet gerade Richtlinien für Reportereinsätze in solchen Gebieten, wie sie schon die ARD und das ZDF haben. Hintergrund: Zwei Bild-am-Sonntag-Reporter waren mit Touristenvisa in den Iran eingereist, hatten dort mit dem Sohn einer zum Tod verurteilten Frau ein Interview geführt und flogen auf. Außenminister Westerwelle musste persönlich in den Iran reisen, um die beiden nach mehr als vier Monaten Haft heimzuholen. Die Richtlinien enthalten allerdings eher allgemeine Hinweise und Vorschriften – darin geht es um Impfungen, Versicherungsfragen, das Informieren der Angehörigen. Einzig die verpflichtende Teilnahme an einem militärischen Vorbereitungskurs mag im Einsatz helfen.
So ein Seminar bietet hierzulande die Bundeswehr an. In sechs Tagen erfahren Journalisten und Mitarbeiter von Hilfsorganisationen in der Infanterieschule Hammelburg, wie sich Schüsse anhören und wo Minen liegen könnten, machen Check-Point-Rollenspiele und werden als Geisel genommen. Die Meinungen über den Kurs gehen auseinander. Fröhder und Tilgner glauben, die Bundeswehr wolle sich die Reporter in ihrem Sinne erziehen. Elmar Theveßen vom ZDF, der selbst an diesem Kurs teilgenommen hat, kann das nicht bestätigen. Und Spiegel-Textchef Brinkbäumer sagt: Es dürfte sich, so Fröhder, aber keine Scheinsicherheit entwickeln. Ungeheuer wichtig seien zudem stabile Familienverhältnisse und "dass Partner und Kinder die Krisenberichterstattung nicht ablehnen, sondern auch die politische Mission akzeptieren und mittragen".
Wenn ARD- und ZDF-Teams aus Krisengebieten zurückkommen, müssen sie ein Nachgespräch mit einem Krisenpsychologen führen. Bei Zeitungen und Magazinen gibt es so etwas nicht. Zeit-Reporter Wolfgang Bauer blieb mit dem Kameramann, den er auf Haiti kennenlernte, in Kontakt. Ein Jahr Therapie brauchte der Kameramann, um wieder auf die Beine zu kommen.
Der Fahrer, der Übersetzer, die Gefahr
Für erfahrene Reporter hält Christoph Reuter es für das Sinnvollste, Erlebnisse mit Kollegen zu bereden, die in einer ähnlichen Situation waren, statt Psychologenstunden zu institutionalisieren. Viel wichtiger als alle Kurse und Gespräche sind für den 43-Jährigen aber die Kenntnis des Landes, der Sprache und Gesten. Wem kann man trauen? Wem nicht? "Wenn man ein Netzwerk von verlässlichen Kontakten hat, ist man schon mal auf der viel sichereren Seite." Es könne schon zum Verderben führen, wenn der Fahrer zu offen über das Ziel rede. Bauer rät, Übersetzer gemeinsam mit dem Fotografen sorgfältig auszuwählen, sich einen Tag dafür Zeit zu nehmen. "Vom Übersetzer hängt dein Leben ab."
Reuter sagt: "Die gefährlichsten Momente liegen meist nicht direkt an der Front, sondern in den Wegen von A nach B, in den Gesprächspartnern und in Unkenntnis gefährlicher Gegenden, in denen man etwa nicht im Freien in einer fremden Sprache mit dem Satellitentelefon telefonieren sollte." Oft tarnt sich Reuter in der Landestracht, wenn er durch Afghanistan fährt, von wo er lange als Korrespondent für den Stern berichtete.
Es gibt zahllose Details, die wichtig sein können: keine ausländische Sim-Karte im Handy, keine westlichen Namen im Adressbuch, keine sauberen Handflächen, nicht alleine, sondern wie die Afghanen mit einem voll besetzten Auto fahren und am besten selbst steuern, denn "der Fahrer wird fast nie verdächtigt, ein Ausländer zu sein", sagt Reuter. Verlassene Straßen und keine Kinder in Dörfern sind verdächtig. Interviewtermine macht Reuter nur noch selten. Er fährt einfach hin und schaut, ob die Person da ist. "Eine US-Kollegin, die im Irak 2004 mit einem Tag Vorlauf ein Interview mit einem prominenten sunnitischen Politiker ausgemacht hatte, wurde von dessen Leibwächtern entführt." Berichtet dann die Presse darüber, erhöhe das den Preis für die Geisel.
Ulrich Tilgner hält jegliche Art der Bewaffnung für gefährlich. Das ZDF schließt in Krisen- und Kriegsgebieten bisweilen Verträge mit privaten Sicherheitsdiensten. Für Tilgner eine Katastrophe. "Die Bewaffnung der Presse verstärkt die kulturelle Barriere. Die Bevölkerung ist nicht bewaffnet. Als ich vor ein paar Tagen nach Falludscha fuhr, ist jemand mitgefahren, der aus Falludscha kam. So passiert auch nichts." Wer aber als Ausländer alleine unterwegs ist und womöglich noch eine schusssichere Weste trage, müsse sich nicht wundern, wenn er entführt oder zur Zielscheibe werde. Aber das Risiko ist im Irak für Journalisten gering, sagt der Fernsehreporter, denn "ich sehe schlicht keine deutschen Reporter mehr".