Als der Zirkus die Stadt verließ, ging Bernhard Paul mit ihm. Er war sechs Jahre alt und hatte sich für ein neues Leben entschieden. Fortan wollte er Zirkusmensch sein. Doch das neue Leben währte nur kurz. An der Stadtgrenze wartete bereits sein Vater und nahm ihn wieder mit nach Hause. Pauls Schicksal konnte das jedoch nicht ändern.
Viele Menschen vergessen ihre Kindheitsträume. Paul nicht. „Meine Helden waren immer Clowns." Aber da der Österreicher nicht einer Zirkusfamilie angehörte, dauerte es eine Weile, bis er seinen Weg fand. Nach der Matura studierte er Hoch- und Tiefbau. Sein Onkel besaß eine Baufirma. Sein Zeichenlehrer sagt ihm dort: „Du bist nicht richtig hier. Du musst nach Wien in die Grafikschule." Danach geht es steil bergauf. Er wird bei dem politischen Magazin „Profil" Art Director, einer der jüngsten Österreichs. Doch der Zirkus lässt ihn nicht los. Sogar in dem Politheft bringt er eine große Zirkusstory unter. Doch die Karriere bedeutet ihm nichts. Er will wieder auf den Zirkuswagen aufsteigen, von dem ihn sein Vater als Kind herabgeholt hat.
Bernhard Paul ist 28 Jahre alt, als er beschließt, genau das zu tun. Er kündigt seinen gutbezahlten Job und gründet 1975 in Wien den Circus Roncalli. Ein ausrangierter alter Zirkuswohnwagen bildet den Grundstock. In der Anfangsphase stößt André Heller zu dem Projekt, bleibt aber nicht lange.
Das erste Roncalli-Programm startet im Sommer 1976 in Bonn. Im Jahr drauf spielt er fünf Wochen bei den Wiener Festwochen. Doch das Konzept funktioniert nicht. Paul war zu naiv an die Sache herangegangen. „Ich dachte, man braucht ein paar Wagen, ein Zelt und los." Nach der Saison in Österreich ist es vorbei. Der Traum vorerst geplatzt. Paul weigert sich aber, sich von ihm abzuwenden. Er hält sich mit Auftritten als Clown in Kaufhäusern und auf Festivals über Wasser. Er kreiert ein Panoptikum und reist damit über Jahrmärkte.
1978 mietet er Räume einer alten Schokoladenfabrik in Köln. Mit einer handvoll Idealisten beginnt er, alte Zirkuswagen herzurichten. Sein Ziel: der schönsten Zirkus der Welt. Und das mit so gut wie keinem Geld. Doch dann kommt ein Pharmazieunternehmen, das für einen feierlichen Abend seinen Zirkus mieten könne, der ja noch gar nicht wieder existiert. Paul fordert 50.000 Mark und bekommt sie. Er mietet einfach einen anderen Zirkus für ein Fünftel des Geldes und stellt einen Roncalli-Wagen an den Eingang. Doch immer noch fehlen mehrere hunderttausend Mark. Der Schweizer Kabarettist Emil Steinberger leiht Paul von sich aus das Geld.
Am 4. Juni 1980 heißt es Manege frei für „Die Reise zum Regenbogen" auf dem Kölner Neumarkt. Sie begründet den legendären Erfolg von Roncalli. 40 Jahre nach der ersten Gründung ist der Roncalli ein Synonym für Zirkus. Doch dieser alleine könnte trotzdem kaum überleben, sagt Paul. Der Finanzstratege hat sich aber breit aufgestellt. Mit einer Eventagentur stellt er Shows für große Firmen auf die Beine. In Hamburg eröffnet er ein Roncalli-Café. In Hamburg betreibt er den Historischen Weihnachtsmarkt.
Von März bis Dezember ist der Zirkus Roncalli unterwegs. Immer ein paar Wochen in einer anderen Stadt. Doch die Zirkusleute sind immer zu Hause. Sie bleiben in ihrem Dorf. Abends beschützt von einem Nachtwächter.
Die Artisten und Techniker, die Musiker und Kioskverkäufer, die Schneiderin und der Koch. Alle leben in ihren kleinen historischen Zirkuswagen. Es ist ihre Welt, ihre Familie. Wer dieses Leben genießt, verlässt es nicht mehr. Natürlich auch nicht die Kinder von Paul. Vivian (26), Lili (16) und Adrian (24). Pauls Frau Eliana Larible, Spross einer alten italienischen Zirkusfamile hält es kaum einmal eine Woche woanders im Urlaub aus. Wer nur einen Tag mit diesen Menschen verbringt, versteht dieses Gefühl. Ein Leben nicht nur für die Show, sondern auch für die gemeinsame Zeit davor und danach.
Mehr als zweieinhalb Stunden dauert eine Vorstellung aus Akrobatik, Clownerie und Livemusik. Doch es sind nicht die einzelnen Elemente alleine, welche einen als Zuschauer verzaubern. Es ist die Wertschätzung, der Dank, den die Menschen von Roncalli einem geben. Sie leben für die Zuschauer. Und das zeigen sie mit jeder Show.