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Die Morde in Göttingen sind leider nur die Spitze der Frauenfeindlichkeit in unserer Gesellschaft

Im Kontext von Geschlechterverhältnissen

Die Morde in Göttingen zeigen erneut: Eine große Gefahr für Frauen geht von gewaltbereiten Männern aus. Oft aus dem familiären Umfeld oder direktem Freundeskreis. Das vermutete Mordmotiv: Er konnte bei ihr nicht landen.

Der erschreckende Tatverlauf in Göttingen, der in seiner Intensität vielleicht eine Ausnahme darstellen mag, ist jedoch im Kontext der gesellschaftlichen Verhältnisse nur ein Beispiel für physische oder psychische Gewalt von Männern an Frauen. Obwohl vielerorts auf eine Gleichstellung von Männern und Frauen auf juristischer Ebene verwiesen wird, sind die unterschiedlichen Rollen innerhalb der Gesellschaft kaum zu übersehen. Für viele Menschen haben Männer noch immer die Aufgabe, die Familie zu ernähren und die Frauen sich um die Kinder zu kümmern. In der deutschen Sprache werden Frauen grundsätzlich nicht mitgedacht und am Arbeitsmarkt haben Männer in fast allen Ressorts bessere Chancen und werden im Anschluss auch besser entlohnt. Wenn man den Frauen- und Männerzeitschriften glauben schenkt, geht es selbst beim Sex vor allem darum, dass dem Mann seine Wünsche erfüllt werden.

Geld und Macht werden mit Männern assoziiert; das wird immer dann besonders deutlich, wenn junge Kerle Frauen im Club auf einen Drink einladen, obwohl gerade junge Menschen noch kaum Unterschiede in ihrem Einkommen aufweisen, was eine Einladung erstmal irrational wirken lässt. Wer diese Tradition mal ein wenig hinterfragt, realisiert schnell, dass es sich beim Einladen in den meisten Fällen um eine Demonstration von Macht handelt, die selten aus Gutherzigkeit geschieht, sondern von der sich fast immer einer (sexuelle) Gegenleistung erhofft, wenn nicht sogar erwartet wird. Wer des Öfteren mit Frauen in einen Club oder eine Bar geht, muss immer wieder feststellen, wie viele Männer aggressiv oder beleidigend auf ein einfaches „Nein" reagieren. Selbiges Motiv veranlasste auch Frank N. zu seinem ersten Mord in Göttingen.

Übergriffiges Verhalten ist weitestgehend akzeptiert und normalisiert. Wenn sich Frauen aktiv dagegen wehren, werden sie als hysterisch beschrieben und häufig mit einem verständnislosen „Was bist n jetzt so?!" diskreditiert. Dazu wird ihnen eingeredet, dass sie sich nicht so anzustellen hätten. Oft sehen Männer in Frauen nur eine Möglichkeit, ihre Bedürfnisse zu befriedigen und nehmen sie nicht als gleichwertigen Menschen wahr. Grenzüberschreitungen nach einer Absage sind leider an der Tagesordnung und das ist unfassbar falsch.

Die konservative Überzeugung, Frauenfeindlichkeit wäre ein seit 2015 importiertes Problem ist ein bodenloser Fehlschluss. Erst letzte Woche erschien eine Studie der Havard University, die belegte, dass jedes 16. Mädchen in den USA ihren ersten Geschlechtsverkehr durch eine Vergewaltigung hat. Vergewaltigungsopfer sind oft Jahre lang traumatisiert, es handelt sich um das intimste und schrecklichste Gewaltverbrechen, das man sich vorstellen kann und dennoch werden Opfer juristisch kaum unterstützt. Ein Prozess ist meist aussichtslos und daran geknüpft, dass Opfer sich ohne ausreichenden emotionalen Schutz dem Täter gegenüber stellen müssen oder mit der Veröffentlichung von Tatvideos erpresst werden.

Aufgrund der geringen Chancen auf einen erfolgreichen Prozess, erheben viele Opfer keine Anklage. In der Gesellschaft wird meist zuerst gefragt, was die Frau dabei für Kleidung getragen habe und ob sie nicht vielleicht doch einverstanden gewesen sei oder warum sie sich im Schock nicht gewehrt habe. Fast immer wird der Frau eine Mitschuld unterstellt. Doch wenn Männer sich an Frauen vergehen, spielt die Auswahl der Kleidung keine Rolle: Es handelt sich um ein Gewaltverbrechen von einem Mann an einer Frau. Ein Täter und ein Opfer. Es ist eine Schande dieser Gesellschaft, dass Vergewaltigungsopfer krasser stigmatisiert werden, als die Vergewaltiger selbst. Dies spiegelt sich auch in den frauenverachtenden Abtreibungsgesetzen in Alabama und anderen Südstaaten der USA wieder. Das Gesetz in Alabama wurde von 25 Männern beschlossen: Demnach werden Vergewaltigungsopfer, die als Folge der Vergewaltigung eine Abtreibung durchführen müssen härter bestraft, als der Vergewaltiger selbst. Frank N. war wegen mehrfacher Vergewaltigung verurteilt. Dass dieser Mensch eine Gefahr für die Gesellschaft und vor allem für Frauen darstellt, war kein Geheimnis und doch war dieser Mann auf freiem Fuß. Wie kann das sein?

In diesem konkreten Fall wird Frank N. in den Medien als Frauenmörder tituliert. In vielen anderen Fällen von häuslicher oder sexueller Gewalt bis hin zum Mord wird jedoch gerne vom „Familiendrama" gesprochen und die Brutalität vieler Männer geschönt. Es ist kein Familiendrama, wenn immer wieder Männer ihre Frauen töten. Es sind Femizide, Morde von Männern an Frauen.

Um deutlich zu machen, wie gesellschaftsfähig und normalisiert sexuelle Gewalt aktuell ist, muss ich lediglich ein paar eigene Erlebnisse der letzten Wochen schildern: Auf einer Bahnfahrt wurde eine Frau im selben Wagon von fünf betrunkenen Master-Studierenden angegafft, verbal auf ihr Äußeres reduziert und absolut geschmacklos angepöbelt, während sich die jungen Männer für ihr grenzüberschreitendes Verhalten noch abgefeiert haben. In einer Warteschlange wurde eine Frau völlig offensichtlich gegen ihren Willen von einem Mann intim angefasst, der in der Folge einfach weiterlief. Auf einem Festival wurde eine Frau immer wieder von einer Gruppe betrunkener junger Männern angegafft oder ungefragt mit offensichtlich sexuellem Hintergedanken angefasst. Während einer anderen Bahnfahrt wurde eine Frau von einem Mannin den 60ern unfassbar aufdringlich angestarrt, primär natürlich ihre sexuellen Merkmale, bis ich das Gefühl hatte, den Mann stöhnen zu hören, wobei ihm das Wasser schon im Mund zusammenzulaufen schien. Es war absolut widerlich. Bei einem Dorffest kam es zu einem Gedrängel vor dem Einlass, bei dem eine Frau von hinten begrabscht wurde. Sie sagte allerdings auch, dass das in fast jedem Gedrängel passiere und sie sich mittlerweile damit abgefunden habe, bzw. eingesehen habe, dass sie in der Situation machtlos sei. Wenn sie deswegen etwas sagen würde, würde sie nur lächerlich gemacht und nicht ernst genommen werden. So normalisiert ist sexuelle Übergriffigkeit in unserer Gesellschaft. Die Spitze des Eisbergs war dann erreicht, als mir eine weitere Frau von einem Vorfall schilderte, in dem ein Mann in einer schmalen Strasse im Dämmerlicht mit seinem Auto bei offenem Fenster nah an sie und eine andere Frau rangefahren sei, ihnen in die Augen geschaut und dabei in seinem Fahrersitz masturbiert habe.

Dies sind nur ein paar wenige Beispiele, die ich in den letzten Wochen erlebt oder erzählt bekommen habe. Doch wer sich mal mit einer Krankenschwester unterhalten hat, weiß auch, dass sich Männer selbst wenn sie auf Hilfe angewiesen sind, noch in einer Machtposition glauben: Sie nutzen Krankenschwestern aus, die sie unnötig an intimen Stellen anfassen sollen, sie zeigen ihnen Fotos von ihrem steifen Glied unter dem Vorwand, ihnen ein Familienfoto zeigen zu wollen und natürlich sagen sie auch mit einem Augenzwinkern Dinge wie: „Von dir hübschem Ding würde ich mich gerne noch länger betüdeln lassen" oder „Kannst du dich nicht Zuhause auch noch um mich kümmern?"

Nein, Sexismus ist kein ideologisch besetzter Begriff der links-grünen Bubble, sondern beschreibt die geschlechterspezifische Diskriminierung von Frauen und eine Form von physischer oder psychischer Gewalt, sowie Übergriffigkeit von Männern an Frauen. Solange es keinen Grundkonsens darüber gibt, dass Frauen juristisch und gesellschaftlich bestärkt werden müssen, weil der Status quo von einer Gleichberechtigung und -Stellung meilenweit weg ist, bleibt der Glaube, in einer gerechten Gesellschaft zu leben, ein Fehlglaube.

Sexismus und Frauenfeindlichkeit sind in Deutschland nahezu überall anzutreffen. Dabei geht es bei der Ausführung von sexueller Gewalt nur in den seltensten Fällen um die Auslebung von Bedürfnissen, sondern tatsächlich um die Ausübung von Macht. Statistisch ist die Gefahr vom eigenen Ehemann umgebracht zu werden deutlich höher, als Opfer von Terrorismus zu werden. Dass Amokläufe, Terroranschläge und Mass Shootings fast immer von Männern ausgehen, wird auch gerne übersehen. Wenn dieser Artikel also einleitet, mit den Worten: „Eine große Gefahr für Frauen geht von gewaltbereiten Männern aus", handelt es sich dabei weniger um Polemik, sondern viel mehr um einen einfachen und traurigen Fakt. Männer sind eine omnipräsente Bedrohung im privaten und öffentlichen Raum, der Frauen immer wieder ausgesetzt sind.

Ein Fakt der dazu führt, dass es völlig verständlich ist, warum sich Frauen nachts alleine fürchten und nur ungerne im Dunkeln nach Hause gehen. Sich auf dem Weg von der Party nach Hause gedankenlos Kopfhörer in die Ohren zu stecken, bleibt ein Privileg, das Männern vorbehalten ist. Auch darüber sollte Mann sich bewusst sein.

Sexuelle Selbstbestimmung bedeutet auch, bei sexuellen Verbrechen Schutz zu finden. In dieser Gesellschaft, in der sexuelle Straftaten sehr einseitig aber täglich passieren (80-90% sexuellen Missbrauchs geht von Männern oder männlichen Jugendlichen aus), werden die Täter jedoch oft mehr geschützt, als die Opfer. Betroffene stellen nach einer Tat schnell fest, dass sie beim googeln nach Hilfe mehr Strafverteidiger für Vergewaltiger finden, als Anwälte für Opfer von sexueller Gewalt. Das darf nicht länger akzeptiert werden. Beobachtet man die Vielzahl der sexuellen Übergriffe, gewinnt man schnell den Eindruck, sexuelle Selbstbestimmung sei bloß ein Mythos, den das Patriarchat erfunden habe, um seiner Gesellschaft ein Selbstbestimmungsrecht vorzugaukeln.

Ein Blick in die Facebook-Kommentarspalte bei der Grünen Jugend Bundessprecherin Ricarda Lang, der Klimaaktivistin Greta Thunberg oder dem Urteil zu den Beleidigungen gegen die Grünen-Politikerin Renate Künast reichen aus, um zu erkennen, wie gesellschaftsfähig frauenverachtende und gewaltverherrlichende Positionen sind. Wenn Frauen täglich eine Vergewaltigung oder ein sexuelles Verbrechen von Männern angedroht werden kann, ohne dass sich Mehrheiten radikal dagegen bilden, sind Ausbrüche wie zuletzt in Göttingen nur eine Frage der Zeit.

Statt also rassistische Geordnete-Rückkehr-Gesetze durchzupeitschen, die niemanden schützen, sollte sich vielleicht mal jemand damit beschäftigen, wie Frauen besser geschützt und Männer konsequenter bestraft werden können. Es ist wichtig anzuerkennen, dass frauenfeindliche Positionen und übergriffiges Verhalten bis heute zentraler Bestandteil unserer vermeintlich aufgeklärten, westlichen, patriarchalen Gesellschaft sind und wir es entschlossen als unsere Aufgabe begreifen, Mackertum und Patriarchat konsequent zu bekämpfen, statt sich länger über Feminismus und Frauenquoten zu echauffieren. Was Taten wie in Göttingen langfristig wirklich verhindert, sind eine zunehmende Sichtbarkeit von Frauen im öffentlichen Bild sowie in Führungspositionen, eine gerechtere Sprache, fairere Löhne und am Ende die Abschaffung des Patriarchats, damit auch der Letzte kapiert, dass das Machtmonopol nicht länger alleine bei Männern liegt!

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